Chroniken der Weltensucher 02 - Der Palast des Poseidon
nicht darum, wie kompliziert er ist, sondern was er kann. Um seine kognitiven Fähigkeiten.« Humboldt nahm seine Brille ab und begann sie zu putzen. Das tat er immer, wenn er komplizierte Begriffe verwendete.
»Wie bitte«, fragte Oskar verwirrt.
»Vielleicht hängt es mit deiner mangelnden Erfahrung zusammen, aber offenbar erkennst du nicht, welches Potenzial in dieser Maschine steckt. Für mich war dieser kleine Blechmann, wie du ihn nennst, eine der herausragendsten mechanischen Erfindungen der letzten hundert Jahre.«
»Dieses Ding da?«
Der Forscher nickte.
Oskar überlegte für einen Moment, ob Humboldt sich vielleicht einen Scherz mit ihm erlaubte, doch in seinen Augen war kein Zwinkern zu erkennen.
»Weißt du, wie viele komplizierte elektrochemische Abläufe notwendig sind, damit du auch nur einen deiner Finger bewegen kannst?« Humboldt sah ihn prüfend an. »Und jetzt mach dir klar, zu was dieser Automat in der Lage ist. Er kann gehen, er kann seine Arme bewegen, er kann greifen und Dinge manipulieren. Er ist in der Lage zu hören und zu sehen und vor allem tut er all das aus eigenem Willen. In seinem Inneren läuft kein Uhrwerk ab. Er trifft eigene Entscheidungen, er wägt ab, was zu tun ist, und führt es dann aus.« Er setzte die Brille wieder auf. »Seit Jahrhunderten träumt die Menschheit davon, sich ein künstliches Ebenbild zu erschaffen. Dieser kleine Blechmann hat uns diesem Ziel ein ganzes Stück nähergebracht. Mein Gott, was gäbe ich darum, eine solche Kreatur zu besitzen!«
So hatte Oskar das noch nicht gesehen. »Na schön«, räumte er ein, »vielleicht habe ich mich getäuscht. Ich verstehe nur nicht, wie uns das weiterbringen soll. Wir wissen weder, was das mit den gesunkenen Schiffen zu tun hat, noch, was wir als Nächstes tun sollen.«
»Das stimmt nicht so ganz. Ich weiß recht genau, was jetzt zu tun ist. Was wir brauchen, ist ein Schiff. Und zwar eines, mit dem wir in die Tiefe tauchen können.« Humboldt zog einen Zettel aus seiner Manteltasche. »Und genau hier kommt Tesla ins Spiel. Er hat mir eine Adresse gegeben und meinte, wir sollten sie unbedingt aufsuchen.«
Charlotte runzelte die Stirn. »Eine Adresse in Paris?«
»Nein, in Le Havre, einer Hafenstadt in der Normandie. Der Name des Mannes ist Hippolyte Rimbault. Ein genialer Erfinder und Schiffsbaumeister. Er war der diensthabende Chefkonstrukteur der französischen Marine, bis man ihn vorzeitig in den Ruhestand versetzte. Tesla hat mir ein Empfehlungsschreiben für ihn mitgegeben. Er sagte, für das, was wir vorhaben, sei Rimbault genau der richtige Mann.«
Humboldt zuckte die Schultern. »Keine Ahnung, ob er uns wirklich weiterbringt, aber ich habe das Gefühl, dass wir auf einer ganz heißen Spur sind. Und was deine erste Frage betrifft …« Er senkte verschwörerisch die Stimme. »Erinnerst du dich, was uns der Dekan in Athen erzählt hat? Er sagte, Livanos hätte etwas in die Leviathan eingebaut, das zur Steuerung höherer Funktionen diene. Etwas Kompliziertes, das er niemandem zeigen wollte.«
»Die Differenzmaschine«, entfuhr es Oskar.
Der Forscher nickte. »Livanos und Tesla haben an einer Art Elektronengehirn gearbeitet. Doch während der eine mit seinem Wissen einen harmlosen kleinen Helfer konstruierte, erschuf der andere etwas ungleich Größeres und Gefährlicheres. Was das genau ist, kann ich mir im Moment noch nicht vorstellen. Um das herauszufinden, müssen wir zum Mittelmeer reisen.«
Der Aufzug war in der ersten Etage angekommen. Ihr Führer entließ sie aus der Kabine, tippte an seinen Hut und schloss die Fahrstuhltür. Die vier Abenteurer gingen nach vorn an die Brüstung und schauten nach unten. Die Aussicht von hier oben war atemberaubend. Die träge über den Himmel ziehenden Wolken warfen ein Muster aus Licht und Schatten über die Stadt und gaben Oskar das Gefühl, er könne fliegen. Schon in Berlin hatte er oft auf Häuserdächern gesessen und auf die Passanten heruntergeblickt. Doch im Vergleich zum Eiffelturm war das natürlich keine Höhe gewesen.
»Darf ich mal eines der Fernrohre benutzen?«, fragte er.
»Aber natürlich«, erwiderte Eliza. »Hier hast du einen Centime.« Sie griff in ihre Börse und wollte ihm gerade die Münze geben, als sie in der Bewegung innehielt. Ihre Lippen wurden blass. In ihren Augen war ein Ausdruck, als habe sie ein Gespenst gesehen. »Eliza?« Oskar berührte ihre Hand. Sie fühlte sich klamm und kalt an. Oskar blickte Hilfe suchend zu seinem
Weitere Kostenlose Bücher