Chroniken der Weltensucher 02 - Der Palast des Poseidon
verraten. Sie würden ihre Aufträge zurückziehen. Von heute auf morgen gäbe es keine Waren mehr zu transportieren. Eine Katastrophe. Alkohol auf See hingegen, das ist etwas, über das nicht mal die Tagespresse berichtet, weil es so banal ist.«
»Aber wenn dort draußen tatsächlich ein Untier existiert? Ich meine … dann müssen wir doch irgendetwas unternehmen.«
Der Alte winkte ab. »Längst schon in die Wege geleitet. Mach dir keine Sorgen.«
»Wovon sprichst du?«
Archytas Nikomedes lächelte überlegen. »Was weißt du über den Krieg, den die Engländer gerade in Arabien führen?«
Stavros überlegte kurz. »Nur, was in den Tageszeitungen zu lesen steht … die Eroberung des Sudan durch die Ägypter und die Rückeroberung des Landes durch die Armeen des Mahdi, ihren islamischen Führer.«
»Ganz recht. Der Mahdi-Aufstand ist der erste erfolgreiche Aufstand eines afrikanischen Landes gegen den Kolonialismus. So etwas kann das Empire natürlich nicht hinnehmen. Mittlerweile ist die Auseinandersetzung so eskaliert, dass die Krone plant, einige schwere Panzerschiffe zu entsenden, die den Aufstand ein für alle Mal niederschlagen sollen. In etwa zwei Monaten werden sie das Kretische Meer passieren. Ich habe meine Kontakte spielen lassen, damit sie sich unseres Problems annehmen. Was immer uns da das Leben schwermacht, die Panzerschiffe werden es in Grund und Boden schießen. Sie haben genug Firepower, um eine ganze Flotte zu versenken. Das Wesen aus den Tiefen wird diesen Tag nicht überleben.«
»Und was, wenn doch?«
»Was meinst du damit?«
»Was, wenn der Plan schiefgeht? Wir wissen doch gar nicht, womit wir es zu tun haben!«
Der Alte blickte ihn mit seinen trüben Augen an. »Da irrst du dich gewaltig, mein lieber Enkel. Wir wissen sehr genau, womit wir es hier zu tun haben.«
21
Le Havre, drei Tage später …
Die Werkhalle ragte mindestens fünf Stockwerke in die Höhe. Dumpfe Schläge, vermischt mit dem Kreischen von Metallsägen, drangen durch das geöffnete Werkstor. Der Lärm war ohrenbetäubend, selbst hier draußen auf den Kais.
Oskar betrachtete die ungeheure Ansammlung von Schiffen, die ringsherum in die Höhe ragten. Manche von ihnen waren brandneu, andere wiederum ziemlich heruntergekommen. Rostige Eisenträger, wohin das Auge reichte. Insgesamt waren es um die fünfzig Schiffe, an denen gearbeitet wurde. Es brauchte nicht viel Fantasie, um zu begreifen, dass Le Havre seinen Ruf als zweitgrößter Marinehafen Frankreichs zu Recht hatte.
»Und hier sollen wir Hippolyte Rimbault finden?«, fragte Oskar.
»Laut der Hafenmeisterei arbeitet er hier«, erwiderte Humboldt. »Abschnitt E, Halle 12.« Er deutete auf die Schrifttafel. »Ich würde vorschlagen, ihr wartet hier, während ich nach dem Erfinder suche.«
»Ich würde gerne mitkommen, wenn ich darf. Eine Halle wie diese habe ich noch nie gesehen.«
»Ich habe auch keine Lust, einfach nur hier rumzustehen und Däumchen zu drehen«, sagte Charlotte. »Außerdem interessiert es mich zu sehen, wie Schiffe gebaut werden.«
»Ihr wisst schon, dass es da drinnen nicht ungefährlich ist, oder?«
»Ist doch egal«, erwiderte Charlotte. »Wir werden schon aufpassen.«
»Na schön.« Seufzend blickte Humboldt Eliza an.
»Möchtest du auch mit?«
»Nein, danke.« Die Haushälterin schüttelte den Kopf. »Der Krach hier draußen genügt mir schon. Ich bleibe lieber bei Wilma.«
»Wenigstens eine, die auf mich hört. Dann lasst uns gehen. Und fasst ja nichts an!«
Gemeinsam betraten sie die riesige Halle. Gleich hinter dem Tor stießen sie auf einen Vorarbeiter, der ihnen Helme in die Hand drückte und ihnen beschrieb, wo sie Rimbault finden würden. Humboldt ging voran. Er trug seinen Gehstock fest in der Hand. Wohin man auch blickte, überall lagen riesige Metalltanks herum. Schiffsspanten ragten wie die Rippen gestrandeter Wale in die Höhe. Überall wurde gehämmert, gesägt und geschweißt. Beißender Brandgeruch lag in der Luft. Männer mit Bolzenschussapparaten jagten fingerdicke Nieten in die Stahlplatten, während ihre Kollegen mit Vorschlaghämmern draufschlugen.
Während Oskar durch die riesige Werkhalle schritt, glaubte er etwas von der schöpferischen Kraft zu spüren, wie sie in dem Roman Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer beschrieben wurde. Einer Kraft, die Menschen befähigte, die höchsten Berge und die tiefsten Meere zu erkunden.
Sie waren noch nicht ganz am Ende angelangt, als ihnen zwei
Weitere Kostenlose Bücher