Chroniken der Weltensucher 02 - Der Palast des Poseidon
Weile hob er seinen Blick. »Es war weise von Monsieur Tesla, Sie zu mir zu schicken. Wie es der Zufall so will, habe ich gerade eine neuartige Erfindung fertiggestellt, die einer ausgiebigen Prüfung bedarf. Ich nenne sie La Bathysphère.« Seine Augen glänzten wie zwei Spiegel. »Möchten Sie sie sehen?«
»Herzlich gerne.«
»Folgen Sie mir!« Mit schnellen Schritten stürmte der kleine Mann in Richtung Ausgang. Oskar war immer noch wie benebelt. Er hatte Jules Verne getroffen. Den Mann, der alle diese wundervollen Bücher geschrieben hatte. Und er war auch noch nett gewesen.
Stolpernd und tief in Gedanken versunken, eilte er hinter dem Schiffsbaumeister her. Wo immer sie vorbeikamen, unterbrach man die Arbeit und lupfte die Mütze. Trotz seiner geringen Körpergröße schien Rimbault über ein beträchtliches Maß an Autorität zu verfügen. Alle bezeugten ihm ihren Respekt.
Draußen angekommen, wandte er sich nach rechts.
Das Wetter war wieder freundlicher geworden. Die warmen Temperaturen, die gemächlich dahinziehenden Wolken und das Kreischen der Möwen ließen Sommerstimmung aufkommen. Im Vorübergehen stellte Humboldt dem Schiffsbaumeister Eliza und Wilma vor, die in ihrer Umhängetasche ein Nickerchen hielt, und gemeinsam gingen sie auf die andere Seite der Halle.
An einer Helling, etwa drei Meter über dem Erdboden schwebend, hing eine seltsame Konstruktion. Sie war kugelrund, gute vier Meter im Durchmesser und bestand aus einer wilden Mischung von Glas und Metall. Wären da nicht die großen Fenster gewesen, die Kugel hätte wie eine überdimensionierte Abrissbirne gewirkt. Doch ein Blick ins Innere offenbarte, dass es etwas ungleich Komplizierteres war. Oskar sah geheimnisvoll blinkende Knöpfe und Schalter sowie Unmengen von Stellschrauben und Ventilen.
»Voilà, die Nautilus«, verkündete Rimbault mit stolzgeschwellter Brust. »Die erste Bathysphäre der Welt.«
»Die erste was?«, fragte Charlotte.
»Eine Bathysphäre ist eine Tauchkugel, die für Tiefseeexploration geeignet ist«, erläuterte Rimbault. »Der Druck in ihrem Inneren bleibt immer gleich, egal, wie tief man taucht. Sie ist damit eine entscheidende Verbesserung gegenüber der herkömmlichen Taucherglocke. Entspricht das in etwa dem, wonach Sie gesucht haben, Monsieur Humboldt?«
»Sie ist perfekt«, erwiderte der Forscher beeindruckt.
In dem Moment öffnete sich die Luke an der Oberseite. Oskar sah einen schwarzen Zopf, zwei kaffeebraune Arme und einen blauen Arbeitsanzug. Es war ein Mädchen. Augenscheinlich in seinem Alter und zudem recht hübsch. Sie hatte große braune Augen und einen fein geschwungenen Mund. Als sie die Besucher bemerkte, lächelte sie, hob ihre Hand und winkte ihnen zu. Geschickt kletterte sie vom Turm herunter, ergriff ein Seil und schwang sich elegant zu Boden. Obwohl sie einfache Handwerkerkleidung trug, zeichneten sich darunter weibliche Rundungen ab. Das Mädchen kam zu ihnen herüber und schüttelte ihnen die Hand. »Bonjour, Papa, bonjour, Mesdames et Messieurs. Comment allez-vous?«
»Darf ich Ihnen Océanne vorstellen?«, sagte Rimbault. »Meine Tochter.« Oskar ergriff ihre Hand. Sie war klein und geschmeidig und beinahe vollständig mit Ölschmiere überzogen.
»Sie wird uns auf unserer Tiefseeexploration begleiten.«
»Tiefseeexploration?« Oskar ließ Océannes Hand los und blickte verwirrt zwischen Humboldt und Rimbault hin und her. »Wovon reden Sie da eigentlich?«
Humboldt zog eine Augenbraue hoch. »Das müsste dir doch inzwischen klar sein. Wir reden davon, unter den Meeresspiegel zu tauchen. Und zwar sehr tief hinab.«
22
Zwei Wochen später …
Stavros Nikomedes legte die Treppe zur großväterlichen Prachtvilla im Eiltempo zurück. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte er vorbei an dem Pagen, der ihm verdutzt die Tür aufhielt, vorbei an dem pikiert dreinblickenden Majordomus und einem Hausdiener mit Putzbürste in der Hand, hinauf in den ersten Stock. Was ihn antrieb, duldete keinen Aufschub. Die Sohlen seiner Schuhe quietschten durch die Korridore, als er den Weg zum Arbeitszimmer des Patriarchen einschlug. Er hatte zwar keinen Termin, wusste aber, dass der Alte um diese Zeit immer an seinem Schreibtisch saß und die Zeitung las. Nun, zum Thema Zeitung gab es einiges zu sagen. Stavros hatte ein Exemplar der französischen Le Figaro unter den Arm geklemmt, auf der eine fette Schlagzeile prangte. Gerade hatte er die Tür des Arbeitszimmers erreicht,
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