Chroniken der Weltensucher 03 - Der gläserne Fluch
wegzunehmen, hieße, die Hälfte unserer Seele zu rauben. Das eine kann nicht ohne das andere bestehen. Nur wer die Trauer kennt, weiß die Freude zu schätzen.« Großer Gott, was redete er da nur? Solch philosophische Gedanken hätte er sich selbst gar nicht zugetraut. War er das wirklich selbst oder sprach da jemand anders aus ihm? Eliza vielleicht?
Das fremde Wesen war jedenfalls überrascht.
»Das verstehe ich nicht.«
»Vielleicht kann ich es anders erklären. Die Dogon sagen: ›Immer nur Sonne macht eine Wüste.‹ Es ist wie mit dem Tod. Erst unsere Vergänglichkeit gibt den Dingen einen Sinn. Wir haben nur eine begrenzte Zeitspanne zur Verfügung, also sollten wir jeden Moment zu etwas Besonderem machen. Wären wir unsterblich, dann wäre alles egal. Das Leben wäre sinnlos.«
Die Augen des Jungen schienen plötzlich groß zu werden wie Untertassen. »So schwermütige Gedanken hätte ich dir gar nicht zugetraut. Du überraschst mich.«
Oskar fühlte eine Woge der Unsicherheit über sich hereinbranden. Sie kam von dem wundersamen Geschöpf und traf ihn mit voller Wucht. Er spürte, dass dieser Junge keineswegs so mächtig und unfehlbar war, wie er sich gab. Vielleicht existierte doch noch eine Chance, ihn von seinem Vorhaben abzubringen.
»Weißt du«, sagte er, »ich war früher oft unglücklich. Ich bin allein aufgewachsen, ohne Mutter, ohne Vater. Ich dachte immer, wenn ich nur eine Familie fände, würde mich das automatisch zum glücklichsten Menschen auf der Welt machen. Aber das stimmt nicht. Ich habe diese Familie jetzt gefunden, aber trotzdem habe ich mich nicht verändert. Ich bin immer noch derselbe.«
»Wieso das?«
»Ich glaube, es liegt daran, dass jeder Mensch eine festgesetzte Menge an Glück und Unglück in sich trägt. Sie begleitet ihn sein ganzes Leben, egal ob die Welt sich um ihn herum verändert. Selbst wenn du sie mit Gold und Geschenken lockst, die Menschen werden deswegen nicht glücklicher. Deswegen fürchte ich, dass dein Plan scheitern wird. Überlass uns lieber uns selbst.«
Der Blick das Jungen verdüsterte sich. »Das kann ich nicht, und das weißt du. Ich bin hierher gekommen, um euch zu vereinen, notfalls gegen euren Willen.«
»Aber warum?«
»Weil ihr Menschen unfähig seid, für euch selbst zu entscheiden. Ihr seid Kinder. Man muss euch an die Hand nehmen und euch den Weg zeigen, ihr verirrt euch sonst.«
»Und was ist mit unserem Recht, eigene Erfahrungen zu sammeln – unserem Recht, Fehler zu begehen und daraus zu lernen? Zählt das etwa nichts?«
»Pfft!« Die Gestalt wedelte mit der Hand, als verscheuche sie eine lästige Fliege. »Die Worte eines Jungen, der noch keine Erfahrung hat. Glaub mir, wenn du erst mal so alt bist wie ich, wirst du anders darüber denken.«
»Aber du hattest die Freiheit, deine Erfahrungen selbst machen zu dürfen. Uns sprichst du dieses Recht ab. Wo ist da die Logik?«
Der Junge neigte den Kopf. Sein Blick war nun deutlich unfreundlicher. »Du bist ziemlich widerspenstig, weißt du das?«
»Das hat mein Vater auch schon gesagt.«
»Eine unangenehme Eigenschaft. Du bist trotzig und aufwieglerisch. Gewöhn dir das lieber ganz schnell ab.«
Oskar hob sein Kinn. »Darf ich offen sprechen?«
»Tust du das nicht schon die ganze Zeit?«
»Ich glaube, es geht dir gar nicht um uns.«
»Was sagst du da?«
»Es geht dir nur um dich. Du erträgst die Einsamkeit nicht, deshalb müssen wir als deine Haustiere herhalten. Unter dem Vorwand, du wolltest uns etwas Gutes tun, sperrst du uns in einen goldenen Käfig, fütterst und versorgst uns, und hin und wieder holst du uns heraus, um uns zu streicheln.«
»Das ist doch …«
»Es geht dir gar nicht um unser Wohlbefinden, es geht dir um Kontrolle. Du willst uns steuern und manipulieren wie Schoßhündchen. Habe ich recht?«
Eine Woge von Wut und Empörung schwappte über Oskar. Die Menschen, die ihn umringten, wandten sich angewidert von ihm ab. Der Junge wirkte nun merklich verärgert. »Wie kannst du es wagen …? Du redest wie diese Dogon.«
»Was haben denn die Dogon damit zu tun?«
»Sie haben meine geliebten Tellem getötet und mich in diesen Tempel aus Glas und Stein gesperrt. Auch sie haben immer davon geredet, dass sie frei sein wollten. Für den Augenblick mögen sie gesiegt haben, aber am Schluss bekomme ich immer, was ich will. Die Zeit ist mein Verbündeter.«
Oskar schwieg betroffen. Er hatte geahnt, dass mit diesem Wesen keine Verständigung möglich war, nun
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