Chroniken der Weltensucher 03 - Der gläserne Fluch
mit ihm erlaubte. Der irische Humor war ja bekanntlich etwas gewöhnungsbedürftig.
»Lächerlich«, schnaubte er. »Nun komm mal wieder runter von deinem hohen Ross. Wenn du mir jetzt hilfst, meine Pferde zu finden, werde ich über diesen kleinen Zwischenfall hinwegsehen und die Sache als erledigt betrachten. Wenn nicht, dann gnade dir Gott. Ich bin nach wie vor der Befehlshaber dieser Expedition und daran wird sich auch so schnell nichts ändern.«
»Sie sind ein Deserteur«, entgegnete Patrick ungerührt. »Unerlaubtes Entfernen von der Truppe wird mit Verhaftung und Einkerkerung bestraft, das sind Ihre eigenen Worte. Also machen Sie uns keine Scherereien und kommen Sie mit.«
»Den Teufel werde ich tun.« Wilson hob seinen Degen. »Der Erste, der mir zu nahe kommt, den steche ich ab wie ein Spanferkel.«
Ein Schuss ertönte. Seine Hand wurde von einer gewaltigen Kraft gepackt und herumgeschleudert. Der Degen flog in hohem Bogen in die Büsche.
O’Neill senkte sein Gewehr. »Lassen Sie den Unsinn, Sir Wilson. Sie haben immer gesagt, dass ich ein höchst mittelmäßiger Schütze bin. Der nächste Schuss könnte eventuell empfindliche Körperteile treffen. Und jetzt hören Sie auf, sich wie ein Verrückter zu gebärden, und heben Sie Ihre Hände.«
62
Charlotte blickte missmutig auf die Kleinteile in Humboldts Händen. Vor ihm lagen die beiden Linguaphone. Ausgebreitet und zerlegt wie zwei tote Hühner. Die Stirn des Forschers war in Falten gelegt. Seine Zungenspitze schaute zwischen den zusammengepressten Zähnen heraus. Ob er es jemals schaffen würde, die Geräte wieder zusammenzubauen?
Der alles entscheidende Faktor hieß Zeit. Wenn er zu lange brauchte, würden die Kristalle die Brücke erreichen und die Dogon würden sie zerstören. Ein paar kräftige Männer standen schon bereit, um die Halterungen zu lösen, mit denen der schwere Mechanismus aus Gewichten, Rollen und Zugseilen in Bewegung gebracht wurde, der die Brücke zum Einsturz bringen würde. Einmal in Gang gesetzt, war das zerstörerische Werk nicht mehr aufzuhalten.
»Wie lange noch?«, fragte sie nervös. »Ubirè hat gesagt, einige der kleineren Kristalle seien bereits in Wurfweite an die Brücke herangekommen.«
»Nur Geduld. Ich musste noch die Übersetzerspule entfernen und den Rest zusammenbauen. Sie frisst einfach zu viel Strom. Alles, was ich brauche, ist die Aufnahmeeinheit mit den Gesängen der Dogon, den Frequenzierer und den Lautsprecher. Der Rest ist Ballast.«
»Was soll das eigentlich werden, wenn es fertig ist?«
»Du wolltest doch eine Opernsängerin, oder?«
»Ja schon, aber …«
»Erinnerst du dich an den Stimmverstärker, den ich in der kaiserlichen Akademie zu Berlin eingesetzt habe? Dieses Gerät hier ist ähnlich, nur dass es die Gesänge der Dogon abspielt. Ich bin selbst sehr gespannt, ob es funktioniert. Nur noch die Batterieeinheit einsetzen, den Deckel draufschrauben und … fertig.« Er hielt den Kasten in die Höhe.
Charlotte blickte skeptisch. Das Gerät wirkte ziemlich klein.
»Na gut, dann schalt mal ein«, sagte sie.
Humboldt drückte den roten Knopf und wartete ein paar Sekunden. Charlotte konnte sehen, wie die Elektronenröhre, die der Forscher magisches Auge getauft hatte, zu leuchten anfing. Es wurde immer heller, während es sich aufheizte. Irgendwann war ein Knacken im Lautsprecher zu hören.
»So weit, so gut«, sagte Humboldt. »Die Aufwärmphase ist abgeschlossen. Jetzt haltet euch besser die Ohren zu.«
Oskar schrak aus seinem Halbschaf hoch. Er hatte zusammengesunken am Fuße des mächtigen Kristalls gesessen und vor sich hin gedämmert, als ein seltsamer Ton zu ihm herübergeweht kam. Eigentlich war es mehr als nur ein Ton. Es war eine Melodie. Eine Folge auf- und absteigender Töne.
Er hob den Kopf.
Da war es wieder.
Irgendetwas an diesem Lied war seltsam. Er konnte es nicht erklären, aber die Melodie löste eine Sehnsucht und Melancholie in ihm aus, die beinahe schmerzhaft war. Erinnerungen an seine Kindheit blitzten vor seinem geistigen Auge auf und wirbelten durch sein Bewusstsein wie Schneeflocken, die ein eisiger Wind durch die Luft blies. Er sah sich wieder im Klassenzimmer sitzen und Latein lernen. Ein Ziehen und Zerren war in seiner Brust. Wie von einem Raubtier, das hinauswollte.
Tränen schossen ihm in die Augen.
Schwankend stand er auf. Er musste sich abstützen, um nicht umzukippen. Der Kristall unter seinen Fingern summte und
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