Chroniken der Weltensucher 03 - Der gläserne Fluch
vibrierte.
Charlotte löste die Hände von ihren Ohren und blickte ungläubig auf das graue Ding in Humboldts Händen. War das möglich, dass so ein kleiner Kasten solche Laute erzeugen konnte? Es mutete fast wie Zauberei an.
Die Dogon waren ebenfalls schwer beeindruckt. Einige starrten mit großen Augen zu ihnen herüber, andere waren zu Boden gesunken, hielten die Köpfe geneigt und beteten.
»Ich würde sagen, der Test war sehr erfolgreich.« Um Humboldts Mund spielte ein kleines Lächeln. »Zeit, dass wir das Ding in der Praxis erproben.«
»Allerdings«, erwiderte Charlotte. »Ich muss gestehen, es hat mich aus den Socken gehauen. Ich fürchte allerdings, Wilma wird den Rest des Tages nicht mehr aus ihrem Versteck herauskommen.« Sie deutete auf ihre Umhängetasche, in der sich eine dicke Wölbung abzeichnete. Ein schmaler Schnabel lugte aus ihren Tiefen hervor. »Kiwis haben ja bekanntermaßen kein gutes Gehör, aber das war selbst für sie zu viel.«
Humboldt nickte. »Es war die richtige Entscheidung, die Spule zu entfernen. So kommt deutlich mehr Saft auf die Lautsprecher. Aber jetzt müssen wir das Gerät an den Kristallen testen. Ich brauche einen Freiwilligen.«
Charlotte war bereits aufgestanden und hatte den Staub von ihrer Hose geklopft. »Du kannst auf mich zählen, Onkel.«
»Gut, dann lass uns losgehen.« Humboldt trat vor und hauchte Eliza einen Kuss auf die Wange. »Wünsch uns Glück.«
»Das werde ich«, flüsterte sie. »Meine Gebete begleiten euch.«
Wenig später trafen sie an der steinernen Brücke ein.
Die grünen Kristalle waren schon sehr dicht an den Abgrund herangekommen. Noch immer fiel Regen und noch immer vermehrten sich die grünen Zacken und Spitzen. Ein andauerndes Rumpeln und Krachen drang zu ihnen herüber.
Humboldt blickte zu dem Wall aus Glas hinüber.
»Wenn wir versagen, dann gibt es kein Zurück«, sagte er und ihm war anzusehen, dass er es ernst meinte. »Erst werden diese Dinger sich in der Ebene ausbreiten und dann vielleicht auf der ganzen Welt.«
»Es wird schon klappen, Onkel. Denk positiv. Oskar zuliebe.«
Humboldt lächelte. »Ich weiß nicht, woher du deinen Optimismus nimmst. Von deiner Mutter jedenfalls nicht. Maria war immer ein sehr negativer Mensch. Sie hat immer und überall nur das Schlechte gesehen. Ich bin froh, dass du bei mir bist.«
Charlotte biss sich auf die Lippen. Musste er ausgerechnet jetzt darauf zu sprechen kommen? Seit sie in Afrika gelandet waren, hatte sie nicht mehr an ihre Mutter und diesen verfluchten Brief gedacht. Ein Brief, der alles infrage stellte, woran sie bisher geglaubt und was sie für selbstverständlich erachtet hatte. Wie würden wohl die anderen reagieren, wenn sie hörten, was Charlotte über sich und ihre Vergangenheit herausgefunden hatte?
Sie schüttelte die düsteren Gedanken ab. »Komm schon«, sagte sie. »Wirf den Kasten an.«
Humboldt stellte den Apparat auf den Boden, steckte den Schalltrichter ein und richtete ihn auf die grüne Front. Die Entfernung zu den Kristallen betrug etwa zehn Meter, näher traute er sich nicht heran. Das fremde Wesen schien jede ihrer Bewegungen zu beobachten. Wer konnte schon sagen, wie es reagieren würde, wenn der Kasten seine Arbeit aufnahm? Dann drückte er auf den Knopf.
63
Fünf Töne waren zu hören. Zuerst ein G, dann ein A, anschließend ein F. Dann folgte eine Oktave tiefer ein weiteres F, dann zum Abschluss ein C.
Glasklar stiegen die Töne gen Himmel, durchdrangen die Regenwolken und prallten gegen die Berghänge. Von dort wurden sie vielfach gebrochen und als Echo zurückgeworfen.
Dann wurde es ruhig. Nur der Regen rauschte.
Charlotte starrte gespannt auf die Kristalle. Eine erwartungsvolle Stille erfasste die Brücke und die darunterliegende Schlucht. Selbst die Kristalle schienen zu lauschen.
»Kannst du irgendetwas erkennen?«
Charlotte wischte über ihre Augen. Das Wasser lief ihr in kleinen Bächen übers Gesicht.
Der Forscher drückte noch einmal auf den Knopf. Charlotte glaubte, die Klänge bis in ihr Innerstes zu spüren. Jetzt ertönte ein Knacken. Ein Geräusch, als würde man einen Kiesel auf eine steinerne Tischplatte fallen lassen. Es knackte noch mal – und noch mal.
»Sieh mal!« Charlotte deutete auf einen kleinen Kristall. Er stand ganz dicht am Abgrund und sah völlig makellos aus. Doch plötzlich erschien ein schmaler Spalt. Er begann unten am Sockel und lief dann hinauf bis in die Spitze. Dann waren es zwei,
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