Chroniken der Weltensucher 03 - Der gläserne Fluch
Hochform auf. Vielleicht würde er Oskar sogar mit seinem Arm helfen können, der während der letzten Tage wieder schlimmer geworden war. Der Verband war nun schon etliche Tage alt und begann langsam, sich aufzulösen. Oskar hatte immer noch nicht gewagt, ihn abzunehmen. Ihn graute davor, was er dort zu sehen bekommen würde.
Von unten drang Humboldts Stimme zu ihnen empor. »Macht schon, Kinder! Die letzte Kiste noch, dann ist Schluss für heute!«
»Komm, Charlotte«, sagte Oskar. »Hängen wir die letzte Kiste auch noch dran. Um ehrlich zu sein, ich bin froh, wenn wir endlich fertig sind. Die Sonne macht mir schon wieder zu schaffen.«
Charlotte sah ihn mit ihren unergründlichen blauen Augen an.
»Bist du sicher, dass es nur die Sonne ist …?«
»Was meinst du?«
Sie deutete auf seinen Arm. »Du musst mir nichts vormachen. Ich sehe doch, was los ist. Eliza spürt es auch. Sie ist nur zu höflich, sonst hätte sie schon längst etwas gesagt.«
Oskar tat so, als wüsste er von nichts. »Ich verstehe nicht …«
»Ich rede von deinem Arm. Die Missionare haben gesagt, sie hätten die Wunde versorgt, aber ich fühle, dass das nicht stimmt. Die Entzündung ist wieder schlimmer geworden, habe ich recht?«
Oskar presste die Lippen zusammen. Charlotte konnte offenbar in ihm lesen wie in einem Buch.
»Wir sollten uns das ansehen, solange wir noch Zeit dafür haben«, fuhr sie fort. »Kann sein, dass du eine Blutvergiftung bekommst. Zum Glück haben wir ja unsere Arzneimittel und unser Verbandszeug wieder. Nichts gegen die Heilkünste der Dogon, aber bei so einer Sache vertraue ich unserer Medizin einfach mehr.« Sie schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln.
Er wusste nicht, was er sagen sollte. Es war ihm unangenehm, dass sie ihn so offen auf seine Verletzung ansprach. Andererseits fühlte er sich auch geschmeichelt. Sie schien ihn viel genauer zu beobachten, als er es vermutet hatte. Ein gutes Zeichen?
Charlotte schob die Kiste in seine Richtung. Als er mit zupackte, berührten sich ihre Finger. Blitzschnell zog er seine Hand zurück. Ihre Wangen färbten sich rot. Sie wich seinem Blick aus, doch dann erwiderte sie ihn. Einen atemlosen Moment lang schauten sie einander tief in die Augen. Oskar kam es vor, als hätte die Welt aufgehört, sich zu drehen. Er konnte nicht sagen, ob Sekunden oder Tage verstrichen waren, doch plötzlich trat Charlotte einen Schritt vor und schlang ihre Arme um ihn. Er spürte ihren Körper. Sie fühlte sich schlank und fest an. Er meinte sogar ihren Herzschlag zu spüren. Sie bettete ihren Kopf an seine Schulter und vergrub ihr Gesicht in seinem Hemd. Sie roch gut. Eine Mischung aus Minze und Zitrone.
Sie hob ihr Gesicht. In ihren Augen war ein Ausdruck, den er noch nie zuvor wahrgenommen hatte. Sollte er sie jetzt etwa küssen? Sein Kopf war wie in Watte gepackt. Als wäre er betrunken oder so.
Er wollte sich gerade zu ihr hinunterbeugen, als plötzlich ein dumpfer Donner ertönte. Zuerst dachte er, sein Herz würde so laut schlagen, doch dann ließ Charlotte ihn los.
»Hast du das gehört?«
»Was war das?«
»Keine Ahnung. Klang wie Gewittergrollen. Aber es ist keine Wolke am Himmel.«
Oskar schüttelte den Kopf. »Nie im Leben war das ein Gewitter. Eher Kanonendonner.«
44
Sir Wilson gab das Signal zum Angriff. Max fühlte sich emporgerissen, dann rannte er mit den anderen durch die Barriere. Um ihn herum regneten Gesteinstrümmer vom Himmel. Die Luft war getrübt vom Rauch und vom Staub der Explosion.
Das Dynamit hatte wirklich ganze Arbeit geleistet. Von dem massiven Wall standen nur noch zwei mächtige Begrenzungssteine, der Rest war in alle Himmelsrichtungen zerblasen worden.
Max sah, wie die Söldner die Bresche stürmten und den Berg hinaufliefen, dann spürte er Wilsons Hand auf seiner Schulter. Der Meteoritenjäger schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln und stürzte sich in die Schlacht. Max sprang auf und rannte hinter ihm her. Er war wie in einem Rausch. Sein Gewehr in den Händen stürmte er den Berg hinauf. Der Angriff war gut geplant. In geduckter Haltung, einer dem anderen Feuerschutz bietend, schwärmten die Männer aus und begannen sofort damit, strategisch wichtige Positionen zu besetzen.
Keinen Augenblick zu früh, denn in diesem Moment begann der Gegenangriff der Dogon. Es fing an mit einem tödlichen Hagel aus Pfeilen und Speeren, dann folgten Stöcke und Steine. Die Geschosse sausten wie Schatten durch die Luft und bohrten sich links
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