Chroniken der Weltensucher 04 - Der Atem des Teufels
nicht. Ihr werdet nur sprechen, wenn ihr etwas gefragt werdet, ansonsten übernehme ich das Reden. Das gilt auch für Sie, Professor. Ich weiß, dass Sie in den Gebräuchen dieses Landes bewandert sind, aber ich bin der Führer dieser Gruppe. Das ist eine Verhaltensformel, die in allen Teilen der Welt Gültigkeit besitzt. Natürlich wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir mit Ihrem Rat zur Seite stehen. Aber bitte: keine Diskussionen in der Öffentlichkeit. Das könnte uns als Schwäche ausgelegt werden.«
»Mir ist immer noch nicht klar, was Sie überhaupt von diesem König wollen«, sagte Lilienkron. »Der Mann ist ein Popanz und ein Scharlatan. Er besitzt keinerlei politische Macht. Ich halte diese Aktion für höchst gefährlich.«
»Bei allem Respekt, aber Sie denken immer noch wie ein Europäer.« Humboldt stützte sich auf seinen Gehstock. »Ich bin lange genug in der Welt umhergereist, um zu wissen, dass man zuerst das Vertrauen der ortsansässigen Bevölkerung gewinnen muss. Das ist etwas, was auch Gouverneur Poortvliet bei all seiner Erfahrung immer noch nicht verstanden hat. Die Niederländer mögen dieses Land zwar unter ihre Herrschaft gebracht haben, regiert und gelenkt wird es aber von Menschen wie diesem König. Er gehört einer uralten Dynastie von Monarchen an, die von den Bewohnern wie Götter verehrt werden. So etwas lässt sich nicht einfach mit Soldaten und einer formalen Inbesitznahme aus der Welt schaffen. Ein Fehler, den die meisten imperialistischen Staaten begehen. Sie glauben, sie könnten einfach irgendwo einmarschieren, ihre Flagge aufpflanzen und die Herrschaft an sich reißen. Doch so funktioniert das nicht. Man muss das Vertrauen der Leute gewinnen – ihr Herz. In hundert Jahren, wenn die Deutschen, die Engländer, Franzosen und Niederländer aus den Ländern gejagt worden sind, werden sie ihren Fehler einsehen.«
In diesem Moment erschien der Statthalter in Begleitung einer grimmig aussehenden Palastwache. Ein junger Mann in seidenem Anzug und mit flachen Schuhen folgte ihnen. Er war schlank, gut aussehend und etwa in Oskars Alter. Seine Haare waren pechschwarz und mit einem goldenen Ring hochgesteckt. Er trug eine rote Schärpe und in seinem Gürtel baumelte ein kunstvoll verzierter Dolch. Als er bei ihnen eintraf, legte er die Handflächen aneinander und neigte den Kopf.
»Willkommen verehrte Reisende, die ihr von so weit hergekommen seid«, sagte er. »Ich freue mich, Sie bei uns begrüßen zu dürfen. Mein Name ist Dimal, ich bin der Sohn unseres verehrten Herrschers Bhamban des Dritten, Regent über Sumatra und Java. Er entbietet euch seine herzlichsten Grüße und bittet euch zu einer Audienz.«
Humboldt faltete ebenfalls die Hände. »Wir nehmen die Einladung von Herzen an und freuen uns, dass der Herrscher uns seine Zeit schenkt. Bitte führe uns zu ihm.«
Dimal nickte, dann machte er kehrt und betrat den Tempel.
»Scheint recht freundlich zu sein«, flüsterte Oskar. »Vielleicht stimmen die Gerüchte gar nicht.«
»Abwarten«, raunte Humboldt zurück.
Im Inneren des Tempels war das Licht gedämpft.
Es gab keine Fenster oder anderen natürlichen Lichtquellen. Stattdessen unzählige Kerzen und Ölfeuer, die im Lufthauch leicht hin und her flackerten. Der Geruch von Weihrauch und Myrrhe erfüllte die Luft. Es roch wie in einer Kirche zu Weihnachten. Von irgendwoher drang leises Klingeln an Oskars Ohren. Von innen betrachtet wirkte der Tempel noch gewaltiger. Die Wände verloren sich nach oben hin in der Dunkelheit und gaben einem das Gefühl, als stünde man in einer gewaltigen Höhle.
In der Mitte des Raumes stand ein mächtiger Thron, der auf vier Säulen ruhte. Öllampen beleuchteten ihn mit feurigem Glanz und ließen ihn aussehen, als würde er schweben. Seine Oberfläche war mit Blattgold überzogen, das in kunstvollster Weise gehämmert und bearbeitet worden war. Oskar war zu weit entfernt, um Details zu erkennen, aber es war klar, dass er mit Hunderten von Abbildungen geschmückt war.
Der König saß auf roten Samtkissen und hatte die Augen geschlossen. Mit überschlagenen Beinen, einer goldenen Spitzkappe auf dem Kopf und den Oberkörper zur Hälfte mit einem Seidentuch bedeckt, sah er aus wie eines jener Buddhastandbilder, die Oskar in Batavia und Surabaya gesehen hatte. Nur dass dieser Herrscher hier höchst lebendig war.
Ihn dick zu nennen wäre eine Untertreibung gewesen. Er war fett, und zwar über ein Stadium des Fettseins hinaus, das man
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