Chroniken der Weltensucher 04 - Der Atem des Teufels
immer mit einem Schaudern betrachtet hatte, verblassten angesichts dieses Panoramas, das nur einem kranken Hirn entsprungen sein konnte.
Als der Aufzug mit einem Donnern anhielt, erwachten die Abenteurer aus ihrer Starre. Bislang hatte Oskar geglaubt, nur einem Trugbild aufgesessen zu sein, doch jetzt merkte er, dass alles echt war. Roter Dampf schlug ihm entgegen. Staubschleier waberten über den Boden. Die Luft war erfüllt vom Geruch nach Hitze und Trockenheit. Rings um ihn herum ragten schroffe Felsen in die Höhe, die aussahen, als habe ein starker Wind sie zu Boden gedrückt. Der Sand zu ihren Füßen bestand aus feinem rotem Staub, der mit gelben Sprenkeln durchsetzt war. Daumennagelgroße Kristalle funkelten zwischen den Sandkörnern. Oskar hob einen davon auf und betrachtete ihn näher. Ein makelloser Stein mit scharfen Kanten und ebenen Flächen. Etwas weiter entfernt gab es noch größere, manche vom Umfang einer Faust.
Lilienkron lief ein paar Schritte durch den Sand und hob den Kopf. Der Himmel über ihnen leuchtete in einem düsteren Orangerot.
»Ist das nicht fantastisch?«, murmelte er. »Schöner, als ich es mir in meinen kühnsten Träumen ausgemalt habe.«
»Na ja … schön?« Charlotte lief ebenfalls ein paar Schritte. Ihre schmalen Füße versanken im Sand. »Was ist das hier für eine Gegend? Ich habe dergleichen noch nie gesehen.«
»Sieht aus wie eine Wüste«, entgegnete Eliza. »Gibt es Wüsten auf Java?«
Humboldt schüttelte langsam den Kopf. »Nicht dass ich wüsste …«
»Die Frage sollte nicht lauten auf Java, sondern unter Java. Vergessen Sie nicht, wo wir sind.«
»Aber das frage ich mich ja«, sagte Eliza. »Wir können unmöglich unter der Erde sein. Dieser Himmel …«
»Das ist kein Himmel«, sagte Lilienkron.
»Was soll das heißen?« Eliza deutete nach oben. »Wir können ihn doch alle sehen.«
Lilienkron kramte in seiner Tasche. »Wir sind unter der Erde und unter der Erde gibt es keinen Himmel.«
Jetzt war Oskar vollkommen verwirrt.
»Sehen Sie selbst«, sagte der Gelehrte und zeigte ihnen sein Barometer. »Laut dieser Luftdruckanzeige befinden wir uns zwölftausend Meter unter Meeresniveau. Tiefer, als je ein Mensch zuvor gewesen ist.«
»Das muss ein Irrtum sein«, sagte Eliza. »Sicher ist das Gerät defekt. Wir sind im Freien und über uns leuchtet eine rote Sonne.«
»Aber nein, Sie irren sich«, sagte Lilienkron. »Das Gerät arbeitet einwandfrei. Aber wenn Sie mir nicht glauben, ich habe hier noch ein zweites Messgerät. Vielleicht räumt das Ihre Zweifel aus.« Er hielt eine längliche Metallschachtel in die Höhe, ähnlich einer Zigarrendose. Auf seiner Oberseite war eine Skala zu sehen. »Dies ist ein Gravimeter. Es misst die Erdanziehungskraft an bestimmten Punkten der Erde. Auf Meereshöhe steht der Zeiger auf exakt 1 g, stellvertretend für die mittlere Erdbeschleunigung von 9,81 Meter pro Sekunde zum Quadrat. Auf einem hohen Berg nimmt die Erdanziehung ab, der Zeiger wandert also nach unten. Und hier? Was sehen Sie?«
»Eins Komma zwei«, las Oskar ab. Er runzelte die Stirn. »Was soll das heißen …?«
»Das soll heißen, unser Gewicht hat zugenommen. Und zwar um den Faktor eins Komma zwei. Wogen sie vorher siebzig Kilo, so wiegen sie jetzt vierundachtzig. Das betrifft übrigens jeden von uns. Wir alle sind schwerer geworden. Sie können es spüren, wenn Sie herumlaufen. Dafür kann es nur eine Erklärung geben: Wir sind näher am Erdkern als zuvor.«
»Aber … wenn das nicht die Erdoberfläche ist, was ist es dann?« Oskar konnte es immer noch nicht glauben und wandte sich an seinen Vater. »Was sagst du dazu?«
Humboldt verzog den Mund zu einem gequälten Lächeln. »Offenbar hat Symmes doch nicht so unrecht gehabt. Dies ist ein Hohlraum, tief unter der Erde. Eine Höhle von gewaltigen Dimensionen.«
Auf Lilienkrons Gesicht breitete sich der Ausdruck eines gewaltigen Triumphes aus. Er schien etwas sagen zu wollen, schwieg dann aber. Offenbar war er zu überwältigt angesichts der Tatsache, dass sein Erzrivale ihm zustimmte.
»Aber wenn wir unter der Erde sind, woher stammt dann das Licht?«, hakte Eliza nach, die sich immer noch nicht geschlagen geben wollte. »Es sieht aus wie eine Sonne, aber das ist ja wohl nicht möglich.«
»Vermutlich eine Schicht hell glühenden Gesteins im Deckengewölbe«, sagte Lilienkron. »Erinnern Sie sich, wie heiß es unterwegs geworden ist? Möglich, dass wir eine Lavazelle passiert haben. Dann wäre
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