Chronos
Wer sind die wahren Zeitreisenden?«
Dies war eine heiklere Frage und weitaus schwieriger zu beantworten. »Die meiste Zeit, Doug, käme niemand hierher. Hier herrscht nicht viel Betrieb. Ich sammle vorwiegend zeitgenössische Dokumente, Bücher, Zeitungen, Illustrierte, und schicke sie weiter.«
»An wen?«, wollte Catherine wissen.
»An Leute aus einer Zeit, die meiner eigenen sehr fern ist. Sie sehen menschlich aus, aber sie sind es nicht ganz. Sie haben die Tunnel geschaffen, die Zeitmaschinen.«
Er fragte sich, wie viel Sinn das für sie ergab. »Die wahren Zeitreisenden«, hatte Archer gesagt. Die Beschreibung war genauso gut wie alle anderen. Ben zitterte immer ein wenig bei den Gelegenheiten, wenn er mit diesen Wesen zusammentraf. Sie waren freundlich und nur ein wenig hochmütig. Aber man war sich der evolutionären Kluft stets bewusst. »Bitte, verstehen Sie eines: Vieles von dem entzieht sich meinem Verständnis genauso wie dem Ihren. Alles, was ich wirklich weiß, sind Legenden, die von Leuten wie mir weitergegeben werden, von anderen Wächtern, anderen Hausmeistern. Legenden aus der Zukunft, so könnte man sie nennen.«
»Dann erzählen Sie uns einige«, bat Archer.
Sie beschäftigen sich, berichtete Ben, mit dem Leben auf der Erde.
Man sollte das Ganze mal unter dem Aspekt der geologischen Zeit betrachten.
Im urzeitlichen Sonnensystem wurde die Form der Erde durch die Kollisionen von Kleinplaneten und Meteoriten geschaffen, die auf ihren Kreisbahnen durch das All zogen. Die Erde hat einen flüssigen Kern, eine Hülle aus kälterem Gestein. Sie gibt Gase und Flüssigkeiten ab – Kohlendioxid, Wasser. Nach einiger Zeit bilden sich Atmosphäre und Meere.
Im Laufe der Jahrmillionen entsteht Leben in Gestalt kristalliner Strukturen im porösen Gestein heißer, mineralreicher untermeerischer Quellen. Nach einiger Zeit passen diese kristallinen Strukturen sich ihrem kühleren Lebensraum an, indem sie Proteine aufnehmen. Später wird das kristalline Skelett zurückgelassen, und reines, auf Protein basierendes Leben beherrscht schon bald die noch sehr primitive Biosphäre. RNS und DNS werden als genetische Erinnerung geschaffen, und die Evolution beginnt richtig. Eine fast unendliche Vielfalt von Strukturen kämpft gegen die Umgebung. Niemals wieder wird es derart komplexe Lebensformen auf der Erde geben. Die restliche Evolution wird sparsamer, nimmt einen Ausleseprozess vor.
Das Klima verändert sich. Prokaryotische Zellen vergiften die Atmosphäre mit Sauerstoff. Kontinente treiben als tektonische Platten auf dem Magma. Das Leben wogt in den langen Intervallen zwischen den Kollisionen mit Kometen auf und ab.
Die Menschheit erscheint. Es stellt sich heraus, dass die Menschheit, genauso wie die Gräser, wie blühende Pflanzen, eine der Spezies ist, die den Planeten selbst verändern kann. Sie manipuliert das klimatische Gleichgewicht und wäre beinahe in ihren eigenen Abfallprodukten ertrunken, besäße sie nicht die außerordentliche Fähigkeit, sich selbst zu modifizieren und neue Lebensformen zu schaffen. Diese sind parallele und ergänzende Technologien. Die Menschheit, vom Tode bedroht, lernt, Maschinen nach ihrem eigenen Ebenbild herzustellen. Sie lernt es, sich in grundlegender Weise zu verändern. Die beiden Fähigkeiten wirken zusammen, um eine neue Lebensform zu schaffen, selbstreproduzierend, aber nur noch andeutungsweise biologisch. Sie kann menschlich genannt werden, weil das Menschliche zu ihrer Entwicklung gehört. Sie ist die legitime Erbin der Menschheit. Aber sie unterscheidet sich von der Menschheit genauso wie kristallines Leben von dem Gestein, aus dem es geboren wurde, oder wie auf Protein basierendes Leben von den Kristallstrukturen, die ihm vorausgingen. Diese neuen Wesen sind nahezu grenzenlos anpassungsfähig. Einige leben im Meer, andere leben im Weltraum. Sie besiedelten die meisten Planeten des Sonnensystems. Sie sind sehr erfolgreich. Sie fangen an zu verstehen und manipulieren einige fundamentale Konstanten des physikalischen Universums. Sie besuchen die Sterne. Sie entdecken verborgene Strukturen im Gewebe der Zeit und des Raums.
Ben hielt inne. Er war ein wenig außer Atem geraten. Wie lange war es her, seit ihm diese Geheimnisse erklärt worden waren? Jahre, dachte er – gleichgültig, wie man es misst. »Catherine«, sagte er, »würden Sie bitte das Fenster öffnen? Draußen weht ein angenehmer Wind.« Ein wenig benommen zog sie die Jalousien hoch und kippte das
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