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Chronos

Titel: Chronos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Charles Wilson
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hatte sie Lieder über die morgendliche und die abendliche Stadt geschrieben, Zauberformeln gegen die Ungehobeltheit des Mittags.
    Tom schlief noch auf dem Sofa. Joyce war darüber einigermaßen verblüfft. Sie hatte sich vorgestellt, dass er am Morgen verschwunden wäre wie ein Traum, eine Rauchwolke. Aber dort lag er unübersehbar in seinen zerknautschten Kleidern. Sie hörte wenig später das Klappern und Ächzen der Toilettenspülung. Dann betrat er die Küche, das Gesicht gewaschen und die Augen so groß und benommen wie am Vortag.
    »New York«, sagte er. »Neunzehnhundertzweiundsechzig.«
    »Herzlichen Glückwunsch.«
    »Es ist erstaunlich«, sagte er.
    »Sie kommen wirklich von außerhalb.«
    »Das können Sie laut sagen.« Sein Grinsen wirkte übertrieben und ein wenig albern.
    »Fühlen Sie sich heute Morgen etwas besser?«
    »Ja, besser. Geradezu ausgelassen.«
    »Na ja, seien Sie nicht zu ausgelassen. Wahrscheinlich brauchen Sie erst mal ein anständiges Frühstück.«
    »Wahrscheinlich.« Dann fügte er hinzu: »Ich bin noch immer pleite.«
    »Nun – ich kann für uns beide das Frühstück bezahlen. Aber ich bin mittags mit Lawrence verabredet. Lawrence wird sicherlich nicht erfreut sein, wenn er erfährt, dass Sie hier geschlafen haben.« Tom nickte verständnisvoll, ohne zu fragen, wer Lawrence war. Sehr rücksichtsvoll, dachte Joyce.
    Sie schloss die Wohnungstür ab, und zusammen gingen sie hinunter auf die Straße. Der Himmel war klar, und die Luft hatte sich erwärmt. Das traf sich gut, denn Tom hatte keinen Mantel, den er über seinem Baumwollhemd hätte tragen können. Sie wollte ihm einen Trödler für gebrauchte Kleidung empfehlen – »Sobald Sie wieder Geld haben«. Aber er wischte das Problem mit einer Handbewegung beiseite. »Über Geld zerbreche ich mir später den Kopf.«
    »Das ist eine begrüßenswerte Einstellung.«
    »Zuerst einmal muss ich dafür sorgen, dass ich wieder nach Hause komme.«
    »Brauchen Sie dazu kein Geld?«
    »Das Geld ist nicht das wesentliche Problem.«
    »Und was ist das Problem?«
    »Die physikalischen Gesetze. Mechanische Mäuse.« Joyce musste gegen ihren Willen lächeln. Er fuhr fort: »Ich kann es nicht erklären. Vielleicht später mal. Wenn ich wieder hierher zurückfinde.«
    Sie sah ihm in die Augen. »Meinen Sie das ernst?«
    »Sehr ernst sogar.«
    Sie bestellte in einem Café für sie beide ein Frühstück. Diese Einladung riss ein Loch in ihre Kasse – aber wofür war Geld sonst da? Tom bestand darauf, eine Zeitung zu kaufen, und dann blätterte er hin und her ... ohne sie eigentlich richtig zu lesen. Er inspiziert sie irgendwie, dachte Joyce. Sie selbst hatte seit dem Weltraumstart John Glenns im Februar keine Zeitung mehr in der Hand gehabt. Sie sagte: »Sind Sie nur Autoverkäufer, oder sind Sie auch Dichter?«
    »Ich habe noch nie ein Gedicht verbrochen.«
    »Ich dachte an die mechanischen Mäuse. Außerdem sind wir hier im Village. Und da sind Dichter zahlreicher als Kakerlaken.«
    »Mein Gott, das ist es, nicht wahr? Das ›Village‹.« Er schaute von der Zeitung hoch. »Sie machen Musik?«
    »Manchmal«, gestand Joyce.
    »Ich hab Ihre Gitarre in der Wohnung gesehen. Eine zwölfsaitige Hohner. Gar nicht schlecht.«
    »Spielen Sie auch?«
    »Ein wenig. Am College habe ich früher gespielt. Es ist aber schon ein paar Jahre her.«
    »Wir sollten mal zusammen etwas spielen. Wenn Sie zurückkommen.«
    »Gitarrenspieler gibt es hier sicherlich genauso viele wie Dichter.«
    »Ungefähr wie Schneeflocken. Keiner gleicht dem anderen.« Sie lächelte. »Aber, ernsthaft, wenn Sie wieder mal hier vorbeikommen ...«
    »Vielen Dank.« Er sah auf seine Uhr und stand auf. »Sie waren sehr großzügig.«
    »Nichts zu danken. Außerdem mag ich Sie.«
    Er ergriff für einen kurzen Moment ihre Hand. Die Berührung war nur flüchtig, aber warm, und sie spürte ein kleines Vibrieren, ein Kitzeln – geheimnisvoll, unerwartet.
    »Vielleicht bin ich bald wieder hier«, sagte er.
    »Leben Sie wohl, Tom Winter.«
    Er trat hinaus in den blassen Sonnenschein, verharrte für einen kurzen Moment in der Türöffnung, dann entfernte er sich mit unsicheren Schritten nach Osten.
    Hoffentlich findest du, was du suchst, dachte sie. Ein Wunsch zum Abschied. Allerdings schien es nicht sehr wahrscheinlich.
    Vermutlich , dachte sie, sehe ich dich nie wieder.
    Sie trank ihren Kaffee und warf einen Blick in die Zeitung, aber es gab nur schlimme Neuigkeiten. Zwei Männer waren in einer

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