Chronos
einer Glasvitrine.
»Lesen Sie ruhig, was Sie interessiert«, sagte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich kann mich nicht konzentrieren.«
Bestimmt nicht. Außerdem fror er. Sie holte ihm ein großes Badetuch und ein Baumwollhemd, das Lawrence zurückgelassen hatte. »Trocknen Sie sich ab und ziehen Sie sich um«, sagte sie. »Und wenn Sie müde sind, dann schlafen Sie ruhig.« Er streckte sich auf dem Sofa aus, und sie ging in die »Küche« – tatsächlich nur eine Nische im Zimmer mit einem Spülstein, einem reparierten Hotpoint-Herd und einer billigen Falttür zum Abtrennen. Sie spülte das schmutzige Geschirr, das sich angesammelt hatte. Ihre Miete war fällig, und der letzte Gehaltsscheck ihres Kaufhausjobs würde dafür ausreichen. Aber danach, so rechnete sie sich aus, blieben ihr nur noch sieben Dollar, bis sie entweder mit ihrer Musik etwas dazuverdiente oder einen neuen Job fand. Beides war nicht unmöglich, aber sie müsste eine Auftrittsmöglichkeit finden oder hungern. Doch mit diesem Problem wollte sie sich erst morgen auseinandersetzen – heute war heute.
Sie brachte die Küche halbwegs in Ordnung. Als sie diese Arbeit beendet hatte, war Tom auf dem Sofa eingeschlafen. Er schlief wie ein Stein und schnarchte leise. Sie nahm seine Armbanduhr von der Holzkiste, die als Tisch diente, und dachte, es ist sicherlich schon spät.
Dann sah sie ein zweites Mal auf das Zifferblatt der Uhr, die eigentlich keine Uhr war, sondern eine Art winzig kleine Anzeigetafel, auf der die Uhrzeit in schwarzen Ziffern auf grauem Grund zu lesen war.
9:35 verkündeten die Lettern, dann war plötzlich 9:36 zu lesen. Der kleine schwarze Doppelpunkt blinkte ständig.
Joyce hatte so eine Uhr noch nie gesehen, und sie nahm an, dass sie sehr teuer sein musste – ganz gewiss war es nicht die Uhr eines Autoverkäufers. »Timex« stand in kleiner Schrift darauf und »Quartz Lithium« – was immer das bedeuten mochte – und »Water resistant«.
Sehr, sehr seltsam, dachte sie.
Tom Winter, Mann der Geheimnisse.
Sie ließ ihn auf der Couch weiterschlafen und begab sich ins Schlafzimmer. Sie zog sich bei gelöschtem Licht aus und legte sich auf das schmale quietschende Sprungfederbett. Sie genoss die kühle Luft und das Klopfen der Heizung und das Prasseln der Regentropfen auf der Feuertreppe. Dann schlüpfte sie unter die kratzige braune Decke und wartete auf den Schlaf.
Besonders morgens und abends liebte sie die Stadt.
Manchmal schlief sie fünf Stunden oder sogar noch weniger, damit sie mehr vom Morgen und vom Abend hatte.
Abends, vor allem wenn sie mit Lawrence und den Freunden ausging, ließ sie sich von der Hitzigkeit ihrer Unterhaltung mitreißen, sprach in irgendeinem Café über Rassentrennung oder das Wettrüsten. Sie lauschte auch begeistert der Musik der Folksänger und -sängerinnen, die aus dem ganzen Land zur Bleeker und McDougal Street strömten. Sie drängte sich auf mit Sägemehl bestreuten Fußböden mit ihren Dichterfreunden und Foliemusikfans und den »Beatniks«, mit überzeugten Trotzkisten und Rauschgiftsüchtigen und Jazzmusikern und achtzehnjährigen Ausreißern aus verschlafenen Städten des Mittleren Westens. Hier kamen alle zusammen, und das mit einer solchen Intensität und Hingabe, dass sie an manchen Abenden glaubte, das pechschwarze Firmament würde das Flehen der Besitzlosen erhören und sich öffnen, und sie würden allesamt in den Himmel auffahren. An solchen Abenden, die es in diesem Winter und Frühjahr so zahlreich gegeben hatte, wartete sie voller Sehnsucht auf den Sommer, wenn das Leben schneller und schneller wurde. Vielleicht würde Lawrence endlich einen Verleger für seine Gedichte finden, oder sie könnte mit ihrer Musik vor Publikum auftreten. Dann befänden sie sich im Mittelpunkt dieses leuchtenden Wirbels.
Aber auch der Morgen war eine gute Zeit. Dies war so ein guter Morgen. Es war schön, aufzuwachen und zu spüren, wie die Stadt ebenfalls wach wurde. Seit sie in New York lebte, war der Rhythmus der Stadt zu einem stabilisierenden Grundmuster geworden. Sie hatte gelernt, den Lärm des morgendlichen Verkehrs von dem am Nachmittag zu unterscheiden, und beide klangen völlig anders als die vereinzelten, einsamen Huplaute des nächtlichen Verkehrs. Der morgendliche Verkehr weckte sie mit seinen Verheißungen. Bis zum Mittag stieß die Stadt sie nicht ab. Mittags war sie jedoch roh, laut, wild, trist und lähmend langweilig. Während der Mittagspause bei Macy's
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