Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Chronos

Titel: Chronos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Charles Wilson
Vom Netzwerk:
auf ihn Jagd machen. Kein Zeitgespenst würde ihn verschleppen. Der Tunnel war trotz allem nur eine Maschine. Eine seltsame und beinahe unverständliche Maschine, gab Billy im Stillen zu, aber auch eine machtlose Maschine – unerreichbar.
    Trotzdem machte es ihn nervös.
    Täglich unternahm er einen Rundgang durch den Keller. Er betrachtete dies als »Überprüfen der Ausgänge«. Die Stadt New York und die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts waren in Billys Vorstellung ein ganz privater Ort, eine willkommene Zuflucht geworden. Die Eingeborenen mochten lästig sein, aber sie waren nicht ernsthaft gefährlich. Die wahren Gefahren lauerten woanders, hinter den Trümmern, wo der Tunnel gewesen war. Billy türmte die Trümmer noch höher auf und baute am Fuß der Treppe eine Tür ein. An der Tür befestigte er ein teures Vorhängeschloss. Falls – durch irgendeinen Zauber – der Tunnel sich selbst reparierte, müsste jeder Eindringling diese Sperren überwinden. Wenn Billy das Schloss aufgebrochen oder die Tür eingeschlagen vorfand, dann hieße das, jemand war in sein Heiligtum eingedrungen ... Es würde bedeuten, dass das zwanzigste Jahrhundert nicht mehr ihm allein gehörte.
    Der Aufwand beruhigte ihn. Dennoch machte seine Nähe zum Durchgang ihn nervös. Es fiel ihm in einigen Nächten schwer, ruhig zu schlafen bei dem Gedanken an jenen Zeitbruch, der im Fels einige Meter unter dem Fußboden verborgen war. Ab dem Sommer 1953 entschied Billy, dass seine allnächtliche Anwesenheit in diesem Gebäude nicht mehr erforderlich war – dass er sich ein paar Straßen weiter eine Wohnung nehmen konnte, ohne Schaden anzurichten.
    Er mietete ein Apartment auf der anderen Seite des Tompkins Square, drei Straßen entfernt. Es unterschied sich nicht sehr von seinem ersten Apartment. Der Fußboden bestand aus schadhaftem, altem Parkett. Billy deckte es mit einem billigen Teppich zu. Die Fenster hatten gelbe Springrollos und waren verstaubt. Kakerlaken hausten in den Rissen und Spalten der Wandbretter, und sie wagten sich des Nachts heraus. Und es gab dort einen tiefen Wandschrank, wo Billy seine Rüstung in ihrer Kiste aufbewahrte.
    Sein Leben zerfiel zu einer Reihe simpler Gewohnheiten. Jede Woche, manchmal auch öfter, legte Billy die kurze Entfernung zwischen den beiden Häusern zurück – oder, wenn er ruhelos war, machte er einen langen Spaziergang durch die Stadt –, um die Miete zu kassieren und die Ausgänge zu kontrollieren.
    Die Miete traf oft verspätet ein, und manchmal zahlten seine wenigen Mieter überhaupt nicht. Aber das war nicht so wichtig. Wichtig war lediglich, dass das Vorhängeschloss im Keller nicht aufgebrochen war – ein Punkt, der immer beruhigender wurde, als die Jahre verstrichen.
    Zeit, dachte Billy oft und ließ das Wort durch seine Gedanken wandern. Zeit: kleine Kreise aus Tagen und das große Rad der Jahreszeiten. Jahreszeiten verstrichen. In den Fernsehnachrichten – wobei er genauso aufmerksam vor seinem kleinen Westhinghouse-Fernseher saß wie Nathan damals das Geschehen auf dem großen Bildschirm im Bürgerzentrum verfolgt hatte – erfuhr er eine ganze Reihe von Namen: Eisenhower, Oppenheimer, Nixon; und von Orten: Suez, Formosa, Little Rock. Er zählte die Jahre, obgleich die Zahlen immer noch unlogisch erschienen, eins-neun-fünf-vier, eins-neun-fünf-fünf, eintausendneunhundertsechsundfünfzig Jahre nach einer Kreuzigung, die Billy genauso lächerlich unwirklich erschien wie der Untergang Roms, der Friedensvertrag von Gent oder die Army-McCarthy-Hearings.
    Seine Rüstung rief ihn weiterhin aus ihrem Versteck, eine dünne Stimme, die manchmal schrill und unerträglich wurde. Das Bedürfnis schien sich nach den Jahreszeiten zu richten, ein Widerspruch, den Billy nicht richtig begriff. Zwei Tötungen pro Jahr, im Winter und im Sommer, in dunklen oder mondhellen Nächten, so unwiderstehlich wie Ebbe und Flut. Und auf jede Tötung folgte tiefes Bedauern, dann Taubheit, dann Wochen stumpfen Dahinlebens ... und die Not meldete sich wieder.
    Neunzehnhundertachtundfünfzig, -neunundfünfzig, -sechzig.
    Nixon in Moskau, Sit-ins in Greensboro, Kennedy im Weißen Haus mit nur wenigen Stimmen Vorsprung.
    Billy wurde älter. Ebenso die Rüstung – aber er versuchte, nicht daran zu denken.
    Er versuchte, an viele Dinge nicht zu denken, vor allem heute, an diesem Tag, während er die Ausgänge überprüfte: im Frühsommer 1962, in einer warmen Nacht, die ihn an Ohio erinnerte.
    Billy trat durch die

Weitere Kostenlose Bücher