Chronos
etwas noch Seltsameres als die gottgleichen Zeitreisenden, ein Wesen, so hell und heiß wie eine lodernde Flamme.
Er betätigte das Rad des Zippo. Es brauchte bald einen neuen Feuerstein, dachte Billy.
Er hielt die Flamme dicht an das Vorhängeschloss – dann atmete er zischend aus und wich zurück.
Mein Gott! Nach all den Jahren!
Das Schloss war aufgebrochen worden!
Billys erster Gedanke galt Krakow, der an dem Tag, als er eingezogen worden war, von einer anderen Tür auf ihn herabgesehen hatte. In diesem Moment hatte er das gleiche Gefühl: Er war in seinem Versteck aufgestöbert worden.
Er war wehrlos, waffenlos, und die Wände waren viel zu nahe, zu eng.
Er fasste sich an den Hals, tastete automatisch nach der Brustplatte, nach der Kontaktfläche, die seine Rüstung aktivierte – aber die Rüstung lag zu Hause.
Er wich von der Tür zurück.
Jemand war hier gewesen! Jemand suchte nach ihm!
Er überlegte, ob er nach oben gehen, Mrs. Korzybski aus dem Schlaf hochscheuchen, Amos Shank aus seiner Wohnung herauszerren sollte, ob er auf sie einschlagen sollte, bis sie ihm erzählten, wer ins Haus gekommen und wer gegangen war. Aber es war möglich, dass sie es nicht wussten. Es war sogar wahrscheinlich. Sicherlich hatte niemand etwas gesehen.
Ich brauche Hilfe, sagte Billy sich. Das Gefühl einer drohenden Gefahr legte sich um ihn wie eine Schlinge. (Ich bin nicht mehr allein!) Er steckte das Feuerzeug in die Tasche, stieg die Treppe hinauf und verließ das Gebäude.
Er stand allein in der Dunkelheit der Straße, während seine Augen die scharfkantigen Schatten zwischen den Mietskasernen absuchten.
Er eilte davon und mied die Nähe der Straßenlaternen.
Die Rüstung, dachte Billy. Die Rüstung würde wissen, was zu tun war.
10
Nach der Einäscherung ihrer Großmutter Peggy Simmons, die viele Jahre draußen an der Post Road gewohnt hatte und vor einer Woche im Schlaf gestorben war, fuhr Catherine Simmons nach Belltower.
Der Sommer machte aus Belltower eine hübsche kleine Stadt, zumindest wenn der Wind nicht von der Fabrik herüberwehte. Catherine kannte die Stadt von ihren vielen Besuchen. Sie hatte keine Schwierigkeiten, das Bestattungsunternehmen, Carstairs Funeral Home, in einer Seitenstraße der Brierley zwischen einem Antiquitätenladen und einem Fachgeschäft für Schiffszubehör zu finden. Sie parkte und blieb ein paar Minuten lang in ihrem Honda sitzen – sie war zu früh zu dem vereinbarten Termin erschienen.
Grandma Peggys Herzinfarkt war völlig unerwartet gekommen, und die Nachricht von ihrem Tod war noch immer unbegreiflich. Von allen Angehörigen von Catherines Familie schien Grandma Peggy am ehesten zum festen Inventar zu gehören. Sie war auf jeden Fall die Solideste und Lustigste des ganzen traurigen Vereins. Aber Grandma Peggy war tot, und Catherine musste sich wohl mit dieser Tatsache abfinden.
Sie seufzte und stieg aus dem Wagen. Der Nachmittag war sonnig, und in der Luft lag der Geruch des Ozeans. Hübsche, kleine, dumme, schlecht riechende Stadt, dachte Catherine.
Es war keine Feier geplant, und es hatten sich keine weiteren Familienmitglieder der Simmons eingefunden. Catherines Vater – Grandma Peggys einziger Sohn – war 1983 an Leberkrebs gestorben, und der Rest der Familie war in alle Winde zerstreut. Nur Catherine hatte die alte Frau in den letzten Jahren häufiger besucht. Offenbar hatte Grandma Peggy sich über diese Besuche gefreut. Ihr Rechtsanwalt, Dick Parsons, hatte sie angerufen und ihr mitgeteilt, dass das gesamte Anwesen Catherine hinterlassen worden war. Auch das eine erstaunliche Nachricht, die erst einmal verdaut werden musste.
Der Bestattungsunternehmer bei Carstairs entpuppte sich nicht als der düster gespenstische Geiertyp, den Catherine erwartet hatte. Er war ein breitschultriger Mann, der eher an einen Footballtrainer erinnerte. Er überreichte Catherine die bronzene Urne mit Grandma Peggys letzter Asche, und das mit einer Geste, die fast entschuldigend wirkte. »So hat Ihre Großmutter es gewünscht, Miss Simmons. Keine Feier, nichts Ernstes. Sie hatte alles schon vorher geregelt.«
»Grandma Peggy war sehr praktisch«, sagte Catherine.
»Das war sie.« Er lächelte mitfühlend. »Es wurde alles von ihrem Rechtsanwalt bezahlt. Ich hoffe, wir haben Ihnen wenigstens etwas helfen können.«
»Sie haben Ihre Sache gut gemacht«, versicherte Catherine ihm. »Vielen Dank.«
Als Catherine hinausging, begegnete sie in der Vorhalle einer Frau. Sie
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