Chucks Welt
die Titten seiner zukünftigen Frau, aber ich kläre ihn nicht auf. Auf dem Weg zu seinem Auto reibt er sich den Ellbogen, dieser unverbesserliche Optimist. Trotzdem bin ich sicher, dass er demnächst zusammenklappt, und dann muss ich für ihn da sein.
»Komm jetzt«, ruft Steve über die Schulter weg und schiebt grinsend nach: »Hab ich dir schon gesagt, wie schön du heute aussiehst?«
I ch sitze bei Dr. S. und wir spielen unser übliches Katz-und-Maus-Spiel. In den letzten Wochen hat sie mir immer wieder neu dargelegt, warum ich mich auf eine Kognitive Verhaltenstherapie einlassen soll, und ich habe mir immer wieder neue Argumente dagegen einfallen lassen. So langsam ist sie frustriert. Ich auch.
»Chuck, ich weiß, wie schwierig das ist, aber deine Zwangsstörungen wirst du nur los, wenn du dich den Situationen stellst, die sie auslösen, ja?«
»Das funktioniert nicht«, erkläre ich.
»Du hast nichts zu verlieren. Wie wäre es, wenn wir ganz langsam einsteigen? Versuch mal, morgen dein Schloss nicht vierzehnmal umzudrehen, bevor du weggehst, sondern nur ein einziges Mal den ganzen Tag über. Und dann schaust du einfach, was passiert?«
»Aber wenn das Schloss dann nicht zu ist?«
»Du hörst es doch klicken, wenn du es das erste Mal drehst, oder?«
»Kann sein. Aber wenn es aus irgendeinem Grund doch nicht richtig schließt?«
»Chuck, du hast selbst gesagt, dass du sowieso nichts wirklich Wertvolles in deinem Fach hast?«
»Ich weiß, aber …«
»Und du hast auch gesagt, dir ist klar, dass dein Schloss auch dann zu ist, wenn du es nicht vierzehnmal umgedreht hast?«
»Schon, aber …«
»Chuck, dein Gehirn treibt seine Spielchen mit dir. Das ist das Prinzip bei Zwangsstörungen, ja? Du darfst nicht mehr auf dein Gehirn hören und deinen Zwängen nachgeben.«
»Aber … mir geht’s gut, wenn ich das tue.«
Dr. S. grinst. »Genau.«
»Genau? Genau was?«, frage ich.
»Deinen Zwängen nachzugeben reduziert die innere Unruhe, was aber letztlich zu immer mehr Zwängen führt, wodurch deine Angst zunimmt und du den Zwängen noch dringender folgen willst. Ein Teufelskreis, ja? Das ist das Muster einer Zwangsstörung, in jeder Hinsicht klassisch.«
Dr. S. scheint begeistert zu sein, dass mein Fall so lehrbuchmäßig ist. Ich seufze tief.
»Chuck, du wirkst entmutigt?«
»Na ja«, murmele ich. »Ich hab mir das leichter vorgestellt. Ich dachte, da gibt’s einen simplen Trick oder so.« Mann, klingt das dämlich.
»In gewisser Weise ist es wirklich ein simpler Trick«, gibt sie zurück. »Kein Grund für Frustration jedenfalls.« Sie setzt sich im Stuhl zurecht und legt den Notizblock weg. »Chuck, wenn du dich weiter gegen die Verhaltenstherapie sträubst, wird es schwer, dir zu helfen?«
Ich antworte nicht.
»Trotzdem sollten wir wohl über eine medikamentöse Behandlung reden?«
Wie bitte?
»Arzneimittel oder was?«
»Ist dir Lexapro ein Begriff, Chuck?«
»Nein.«
»Das ist ein Mittel gegen Depressionen …«
»Aber ich hab doch gar …«
Dr. S. hebt die Hand, um mich zu stoppen, als wüsste sie schon, was ich sagen will.
»Mir ist klar, dass du nicht depressiv bist, Chuck. Aber Teenager mit Zwangsstörungen werden oft mit solchen Mitteln behandelt. Bei anderen Patienten von mir hat das sehr gut gewirkt, ja?«
Ich kann mir nicht vorstellen, dass es da draußen noch mehr Leute gibt, die genauso durchgeknallt sind wie ich.
»Lexapro kann einige von deinen Symptomen reduzieren – hoffentlich so weit, dass dir die Verhaltenstherapie nicht mehr so schwierig erscheint?«
»Aber ich will keine Psychopillen nehmen.«
Wie ist es bloß so weit gekommen? Eine kleine Google-Recherche, ein harmloser Flickipedia-Eintrag, ein kurzes Gespräch mit Mom, und schon werde ich Woche für Woche fünfzig Minuten lang mit einer birnenförmigen, Nike-tragenden Irrenärztin eingesperrt, die mich unter Drogen setzen will. Was ist das überhaupt für ein Zeug?
»Ich stelle dir ein Rezept aus und rede mit deinen Eltern. Ist das in Ordnung?«
»Meinetwegen«, nuschele ich. Da werden sie Gewalt anwenden müssen – freiwillig schlucke ich die Dinger nicht.
»Möchtest du, dass es dir besser geht, Chuck?«
»Klar.«
»Dann lass mich dir helfen?«
Jetzt steigen mir Tränen in die Augen. Das ist alles so bescheuert. Wieso kann ich nicht einfach meine Listen machen und nachgucken, ob der Herd aus ist? Dann geht’s mir doch gut. Ich bin so lange mit allem zurechtgekommen.
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