Chucks Welt
Ich lasse den Kopf auf die Brust sinken.
»Chuck, alles okay mit dir? Brauchst du ein Taschentuch?«
Ich gucke nicht mal hoch.
E ins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun –
»Hey, Chuck.«
Jemand hat gerade meinen Namen gesagt. Das kann nicht sein. Ich konzentriere mich wieder auf mein Schließfach.
Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben –
Ich blicke auf. Vor mir steht … Amy.
»Chuck, stimmt’s?«, fragt sie.
Mit meinem blinzelfreien Starren stelle ich glatt einen neuen Guinness-Buch-Rekord auf.
»Ja, mhm, genau. Hi.« Immerhin ein Anfang.
»Ich bin Amy.« Sie macht eine Pause. »Du weißt schon, aus dem Mathekurs?«
Ich tue, was ich kann, um vorzutäuschen, dass das hier nicht der wichtigste Moment meines Lebens ist und dass ich nicht den ganzen letzten Monat beim Wichsen jedes Mal an sie gedacht habe, vom Führen der Strichliste ganz zu schweigen.
»Ach, hi.« Mehr bringe ich nicht raus.
Sie hält mir die Hand hin und ich schüttle sie. Wie weich sie ist. Ich ziehe in Erwägung, mir die Hände nicht mehr zu waschen. Für kurze Zeit zumindest.
Dann folgt ein peinliches Schweigen – ich weiß immer noch nicht, was zur Hölle hier läuft und womit ich es mir verdient habe.
»Coole Treter«, sagt Amy.
Wir schauen beide runter auf meine Chucks. Sie sind rosa. Warum musste ich heute Morgen nur so verdammt gelangweilt sein? Vollidiot!
»Converse All Stars in Pink. Krass.«
Warte mal, ich glaube, die gefallen ihr.
»Ja.« Ich erhole mich wieder. »Ich nenne sie meistens Chucks. Was wohl ein bisschen bescheuert ist, weil man’s auf die Art leicht verwechseln kann. Du weißt schon, weil ich doch Chuck heiße und so?« Was für einen Schwachsinn brabbelst du da, halt die Klappe …
Aber Amy nickt zustimmend: »Passt bombig.«
Verdammt, ich liebe sie!
»Also«, fährt sie fort, »ich hab mich gefragt … na ja, du blickst es anscheinend richtig gut im Unterricht von Mr Cimaglia.«
»Danke. Na ja, ich mach eben gerne Mathe.« Chuck, wozu erfindest du grundlos solche Lügen? Du bist behindert, echt.
»Wirklich?«, fragt Amy. »Ich hasse Mathe. Mein Ding ist Chemie.«
Klar, sie steht auf Chemie , wieso denn nicht? Was soll das? Mir dreht sich alles.
»Na ja, und da hab ich mich gefragt, ob du mir vielleicht Nachhilfe geben könntest, damit ich eine vernünftige Abschlussnote kriege fürs College. Du hast ja gesehen, wie ich mich neulich angestellt habe, ich hab da echt keinen Plan.«
»Na ja, mhm, klar. Kann ich machen.« Ich lächle.
»Ich bezahl dich natürlich und …«
»Nein, nein, nein. Auf keinen Fall. Du musst mir nichts zahlen.« Chuck, du bist charmant und ein Mann von Welt und so weiter. Das ist super.
»Aber ich kann doch nicht deine Hilfe in Anspruch nehmen und dir dafür nichts …«
»Kommt nicht infrage. Ich helf dir umsonst. Außerdem nützt mir das auch für meine eigene Vorbereitung und mir Geld für mein eigenes Lernen zu geben wär ja wohl blöd, oder?« Ich gluckse nervös. Versau das nicht …
»Wow, das ist total süß von dir, Chuck.«
»Kein Problem, Amy.« Zum ersten Mal spreche ich in ihrer Gegenwart ihren Namen laut aus. Fühlt sich gut an, als würde ich das schon seit Jahren tun.
»Also reden wir bald mal wieder und machen Zeit und Ort aus, ja?«, sagt sie.
»Klingt wunderbar. Bist du morgen wieder in Mathe?«, frage ich.
»Klar.« Sie lächelt fragend. »Wieso sollte ich nicht da sein?«
Du verpatzt es. Beende dieses Gespräch! Sofort!
»Keine Ahnung. War nur so dahingesagt. Dann sehen wir uns morgen!«
Habe ich den letzten Satz wirklich viel zu laut gesagt?
»Bombig.«
Ehrlich, wer benutzt so einen Ausdruck? Nur die richtig hippen Leute! Wenn ich so was sagen würde, fänden das alle albern.
Nach ein paar Schritten dreht sich Amy wieder zu mir um.
»Ach, und einen schönen Valentinstag noch!«
Sie grinst, zuckt kurz mit den Achseln und verschwindet.
Verdammte Hölle, Amy Huntington hat mir gerade einen schönen Valentinstag gewünscht. Ich wusste nicht mal, dass Valentinstag ist!
Ich weiß nicht, wohin mit mir. Was soll ich jetzt tun? Simse ich Steve und erzähle ihm alles? Ich bin ganz durcheinander. Schwitze. Es klingelt. Ohne nachzudenken renne ich zu meinem nächsten Kurs. Der Tag ist wie neu.
Erst später wird mir klar, dass ich versäumt habe, mein Schloss vierzehnmal umzudrehen.
I ch sitze an meinen Hausaufgaben und habe dabei doch nur Amy im Sinn. In Gedanken gehe ich unser Gespräch
Weitere Kostenlose Bücher