Chucks Welt
gesehen), und bin zu weit weg, um etwas zu verstehen. Ich schaue mich kurz um, in welcher Abteilung ich bin. Frauenforschung! Sogar das Katalogsystem verarscht mich.
Amy macht den Hals lang, um Ashley anzugucken; er ist so verdammt groß. Sie lächelt über etwas, das er sagt. Ich merke, wie ich unwillkürlich mitlächle, wodurch ich mich gleich noch schlechter fühle.
Nach einer Weile verschwindet Ashley und Amy wendet sich wieder ihren Büchern zu. Anscheinend haben die beiden ziemlich nett miteinander geplaudert, was mich rasend macht. Baggert Ashley sie an?
Um mich zu beruhigen, erinnere ich mich an all die schönen Zeiten, die Amy und ich miteinander hatten. Sie hat mich ihre Army-Jacke anprobieren lassen. Sie hat eine Wimper von meinem Gesicht gezupft und gesagt, ich soll mir was wünschen. (Was ich mir da gewünscht habe, ist nicht schwer zu erraten.) Sie hat Mathe-Cupcakes für mich gemacht. Sie hat versucht, mich zu küssen. Ich beschließe, dass es an der Zeit ist, mit ihr zu reden, und zwar Auge in Auge.
Ich nehme einen Umweg, um von dort, wo ich mich verstecke, an Amys Tisch zu kommen, und hoffe, dass sie mich so lange wie möglich nicht sieht. Sie entdeckt mich, als ich etwa drei Meter weit weg bin. Ich glaube, sie guckt böse. Ich habe sie bis jetzt zwar noch nie böse gucken sehen, aber das hier sieht jedenfalls so aus. Immerhin springt sie nicht auf und läuft weg oder schreit um Hilfe oder so.
Ich trete an ihren Tisch.
»Hey«, sage ich.
»Hey«, gibt sie zurück.
Ungefähr so weit reicht mein Plan für dieses Gespräch. Wie kann man nur so bescheuert sein? Ab hier muss ich improvisieren.
»Darf ich mich setzen?«
Amy zuckt mit den Schultern.
Ich schnappe mir einen Stuhl und setze mich ihr gegenüber, aber der Tisch ist so klein, dass ich unbehaglich dicht bei ihr sitze. Wenn du dir die allerungünstigste Konstellation für ein Gespräch mit einem Mädchen ausdenken wolltest, das dich gerade in die Wüste geschickt hat, wäre es diese hier.
Mir fällt auf, dass sie ihr Mathebuch daliegen hat und einfach dort weitermacht, wo wir aufgehört haben. Soll bloß keine Lücke geben ohne den guten alten Chuck.
»Amy.«
»Ja?«
»Was passiert ist, tut mir leid.«
»Mach dir keine Gedanken.«
Diese Reaktion macht mich fassungslos. Heißt das, sie hasst mich nicht? Warum sind Mädchen bloß so verwirrend?
»Also …«, sage ich.
»Du hast mich sehr verletzt, Chuck«, unterbricht sie mich. »Ich fühle mich total gedemütigt. Wie der letzte Idiot. Und Buttercup war ganz verängstigt.«
»Ich weiß, ich weiß. Tut mir so leid«, sage ich.
»Ich hab keine Ahnung, was passiert ist und warum du das gemacht hast, aber ich finde, es ist besser, wenn wir’s lassen mit unserer Freundschaft.«
Zu hören, wie Amy etwas in der Art bei mir zu Hause sagt, mitten in der Situation, ist eine Sache. Dass sie eineinhalb Wochen danach in einem ruhigen Gespräch immer noch diese Haltung hat, ist viel, viel schlimmer. Ich möchte Amy so gern von meinem »Problem« erzählen. Ich will ihr erklären, wie sich die Schaltkreise in meinem Hirn manchmal aufhängen und andauernd wiederholen und dass ein Hund, der Kuchenkrümel von meiner Hand leckt, eine chemische Reaktion auslöst, die ich nicht kontrollieren kann. Ich will ihr sagen, wie heftig das alles ist und dass ich sogar in Behandlung bin und Medikamente nehme, damit es besser wird. Aber das kann ich nicht. Dann hält sie mich nämlich für einen Psychopathen und redet garantiert nie mehr mit mir.
»Aber«, stottere ich vor mich hin, »können wir das Ganze nicht einfach vergessen? Und, na ja, noch mal von vorn anfangen?«
»Chuck«, sagt sie. »Ich wollte, wir könnten das. Aber das gehtnicht. Was passiert ist, ist passiert. Ich weiß, du bist ein guter Typ, aber ich kann dich nicht mehr so sehen wie vorher. Ich hab mich dir an den Hals geworfen und du warst so … gemein.«
Amy packt ihre Bücher ein.
Noch nie hat jemand zu mir gesagt, ich wäre gemein. Leute haben mich Loser, Spinner oder Sackgesicht genannt. Aber nichts davon hat mir so wehgetan wie das hier – Amy Huntington, die mich gemein findet.
»Ich wollte das nicht«, sage ich. »Ich habe nur …«
Amy steht auf und sieht mich an, anscheinend erwartet sie so was wie eine Erklärung.
»Es tut mir so leid, Amy.«
Wieder guckt sie böse. Diesmal ist es eindeutig. »Adieu, Chuck.« Sie geht.
Ihre Ballerinas machen kaum ein Geräusch auf dem Teppich in der Bibliothek.
D er Herd
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