Chucks Welt
ist aus. Der Herd ist aus. Der Herd ist aus.
Ich liege im Bett und wehre mich verzweifelt gegen den Drang, nach unten zu gehen und nach den Herdplatten zu schauen. Ich habe sie vor dem Schlafengehen kontrolliert. Ich habe die Hand draufgelegt und festgestellt, dass sich alle vier kalt anfühlten. Ich habe die Drehknöpfe beäugt. Sie standen alle auf null. Ich habe gelauscht und eine Riechprobe gemacht, um sicher zu sein, dass kein Gas austritt. Dass das beim Elektroherd meiner Eltern nicht der Fall ist, war nicht weiter überraschend. Der Herd ist ganz klar aus. A-U-S. Aus.
Ich kann nicht beurteilen, ob das Lexapro funktioniert. Sonderlich schlapp fühle ich mich inzwischen nicht mehr. Aber ich kann nicht sagen, ob es mich weniger verrückt macht oder so. Dr. S. findet, ich soll das mit der KVT ausprobieren, wenn ich denke, ich könnte es hinkriegen. Keine Ahnung. Vielleicht funktioniert das Medikament eben doch, denn ich habe zum ersten Mal das Gefühl, so ein bisschen jedenfalls, dass ich’s eventuell mal probieren kann.
Es ist schwer. Viel schwerer, als ich dachte. Dabei muss ich nichts weiter tun, als nicht noch mal nach dem Herd schauen.
Er ist aus. Er ist definitiv aus. Mom und Dad haben heute nicht mal gekocht. Trotzdem frage ich mich unwillkürlich, ob ich wirklich alle Platten überprüft habe. Habe ich es richtig gemacht? Hat sich nicht vielleicht eine doch wärmer angefühlt als die andern? Hat einer von den Drehknöpfen nicht ein bisschen schräg gestanden? Ich sollte wirklich noch mal nachsehen. Was sind schon die zwei Minuten, die ich für eine doppelte/dreifache/vierfache Kontrolle brauche, wenn es darum geht, meine Familie vor dem Feuertod zu bewahren? Du musst das schaffen …
Mein Wecker schrillt laut. Puh! Noch so verdammt früh. Ich habe keine Lust auf Schule. Moment mal. Hey, Moment mal. Ich hab den Herd nicht kontrolliert. Ich habe es geschafft! Ich springe aus dem Bett. Unten in der Küche sitzen Mom, Dad und Beth und essen ihre Frühstücksflocken. Sie sind nicht verbrannt.
»Guten Morgen, Liebling«, sagt Mom.
Ich ignoriere sie und steuere auf den Herd zu. Ich überprüfe die Platten. Immer noch aus. Ich starre die Drehknöpfe an. Immer noch aus. Wie jedes Mal, wenn ich etwas wiederholt überprüfe, durchströmt mich eine Art Rausch. Aber irgendwie ist es nicht ganz so wie sonst. Das Ganze kommt mir … ein bisschen albern vor.
Ein paar Tage nach meinem bescheidenen Triumph über den Herd stehe ich an meinem Schließfach. Es hat geklingelt. Ich komme sowieso zu spät. Mein Schließfach ist noch offen. Sobald es zu ist, werde ich das Schloss vierzehn Mal drehen wollen, logisch. Nach jeder Schulstunde habe ich dieses Miststück zu überlisten versucht – Fehlanzeige. Das ist die letzte Stunde für heute. Mach das Schloss zu und dreh ein Mal rum. Ich lege die Hand auf die Schließfachtür. Ein vertrautes Gefühl steigt in mir auf, eines, das immer kommt, kurz bevor mich der Zwang packt. Du musst das schaffen …
Ich knalle das Fach zu. Drehe ein Mal. Springe hektisch ein Stück zurück. Hätte jemand das gesehen, würde er denken, ich hielte ein Raubtier da drin gefangen. Ich starre mein Fach an. Ich weiß,es ist abgeschlossen. Es kann unmöglich nicht abgeschlossen sein. Ich zwinge meine Füße, sich in Bewegung zu versetzen. Ich gehe weg, die Augen auf das Schließfach geheftet. Endlich bin ich an der Ecke angekommen. Ich drehe mich um. Und renne als Sieger davon.
Eine Weile später laufe ich nach der Mittagspause zu meiner nächsten Unterrichtsstunde. Ich habe gerade ein Sandwich verspeist. Mit bloßem Auge betrachtet, sind meine Hände makellos. Kein Krümel, kein bisschen Mayo. Aber ich spüre es. Ich rede mir gut zu: Selbst wenn meine Hände schmutzig sind, ist das kein Problem. Ich schaue den andern, den Normalos, dabei zu, wie sie die Cafeteria verlassen. Kein Einziger wäscht sich die Hände. Sie werden nicht an EHEC sterben und ich auch nicht. Benimm dich wie ein Mensch. Geh einfach zum Unterricht, Chuck. Es geht nur um Brot. Deine Hände sind okay. Du musst das schaffen …
Ich laufe an dem Sagrotanspender vorbei. Er ruft nach mir. Ein Frösteln kriecht mir den Rücken hoch. Ich betrachte meine Hände. Sie sind sauber. Ich reibe mir die Finger. Sie sind nicht sauber. Ich gebe auf. Ich laufe zu dem Spender. Desinfektionsmittel spritzt auf meine Hände. Ich verreibe es sorgfältig. Das tut wahnsinnig gut. Aber ich fühle mich auch ein bisschen schuldig.
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