Chuzpe: Roman (German Edition)
Falle. Ich komme mir vor, als wäre ich immer mit ihm zusammen, wenn ich nicht in der Kanzlei bin. Ich fühle mich in dieser endlosen Vertrautheit gefangen. Ich weiß genau, wie er sich die Zähne putzt und wie er seine Socken anziehtund seine Krawatte bindet und sich am Kopf kratzt. Er ist wirklich glücklich. Aber sein Glück und seine Zufriedenheit machen mich klaustrophobisch. Ich muß weg.«
Ruth fragte sich, wohin Sonia wegwollte. In ihrer eigenen Erfahrung war immer sie es, wovor sie weglaufen wollte. Sie wollte überallhin, vorausgesetzt es war anders als sie. War Sonias Ziel möglicherweise ebenso unklar und unerreichbar?
»Sogar getrennte Betten wären schon eine Hilfe«, sagte Sonia. »Wir sind verheiratet, aber warum kann nicht jeder seinen eigenen Platz zum Schlafen haben? Warum müssen wir gemeinsam bewußtlos sein? Ich will meinen eigenen Platz. Ich will Michael nicht verlassen, ich will nur meinen eigenen Platz. Als ich einen Liebhaber hatte, hatte ich meinen eigenen Platz.«
»Nein, das hattest du nicht«, sagte Ruth. »Du hattest eine Ablenkung, einen Ersatz und eine Menge Dinge, die du verheimlichen mußtest. Du mußtest Michael pausenlos anlügen. Das müssen alle, die verheiratet sind und Affären haben. Lag es an all diesen Lügen, daß du das Gefühl hattest, weniger bedrängt zu sein, weniger eingeschränkt, deinen eigenen Platz zu haben?«
»Ich weiß nicht«, sagte Sonia.
»Ich glaube, das mit dem eigenen Platz kann eine reine Frage der inneren Einstellung sein«, sagte Ruth.
»Du hast dich so oft analysieren lassen, daß du alles der inneren Einstellung zuschreibst«, sagte Sonia. »Du denkst wahrscheinlich, auch das Wetter und die Müllabfuhr wären Fragen der inneren Einstellung.«
»In der Tat verlagere ich innere Ängste gelegentlich auf das Wetter, das ein äußerer Faktor ist, wie ich zufällig weiß«, sagte Ruth. »Aber in Sachen Müllabfuhr muß ich passen. Die ist für mich nur die Müllabfuhr.« Sie schwieg einen Moment. »Weißt du, was meiner Meinung nach mit dir los ist,Sonia?« sagte sie. »Meiner Meinung nach willst du dir das Leben schwermachen. Du mußt das Bedürfnis nach Schwierigkeiten gehabt haben, wenn du über so viele Jahre deiner Ehe hindurch Affären unterhalten hast.«
»Wenn ich eine Analyse brauche, suche ich mir einen Analytiker«, sagte Sonia.
»Ich kenne das Bedürfnis nach Schwierigkeiten«, sagte Ruth. »Ich komme mir vor, als würde ich immer nach Schwierigkeiten suchen. Vor allem wenn alles in Ordnung ist. Sobald ich ein tiefes Glücksgefühl empfinde, fange ich an, zu suchen und zu graben, als wäre ich eine Schnecke am Meeresgrund mit zwei riesigen Fühlern und Augen mit einem Blickfeld von 360 Grad am Ende der Fühler. Sobald ich Glück spüre, beginnen diese Augen sich zu drehen. Sie haben einen Auftrag, sind auf der Suche, beinahe verzweifelt auf der Suche nach Schwierigkeiten. In der Regel brauche ich zehn Minuten, um eine Sorgenquelle zu lokalisieren. Zehn Minuten später habe ich so viele Sorgen angehäuft, daß das Glück sich weitgehend in Luft aufgelöst hat. Inzwischen habe ich gelernt zu warten. Wenn ich etwas Schönes erlebe, warte ich und versuche, nicht wegzulaufen und nicht herumzusuchen, bis ich etwas finde, um es kaputtzumachen.«
»Hast du das über dich in Erfahrung gebracht, nachdem du Hunderttausende Dollar in der Analyse gelassen hast?« fragte Sonia.
»Es ist ziemlich viel«, sagte Ruth.
Aber es war nicht genug, dachte sich Ruth. An diesem Vormittag war sie sehr beunruhigt und fast hysterisch gewesen. Garth hatte auf ihrem Mobiltelefon die Nachricht hinterlassen, er werde nach Melbourne fahren, um Arbeitsmaterial zu kaufen. Er hatte nicht gesagt, wann er losfahren oder wann er zurückkommen würde. Sie wußte nicht, ob er mit dem Wagen oder mit dem Zug fuhr. Oder wo er übernachtete.
Ihre Unruhe hatte sich am Nachmittag in Aufregung verwandelt, und sie hatte ihn angerufen. In Australien war es fünf Uhr morgens.
»Ich bin froh, daß du noch nicht nach Melbourne gefahren bist«, hatte sie in schrofferem Ton als beabsichtigt gesagt, als Garth den Anruf entgegennahm.
»Ist irgendwas nicht in Ordnung, Süße?« hatte Garth gesagt, von ihrem Ton erschreckt.
»Daß du nach Melbourne fährst, das ist nicht in Ordnung«, hatte Ruth gesagt.
»Was soll daran nicht in Ordnung sein?« hatte Garth gesagt. »Ich muß hinfahren. Ich brauche alle möglichen Sachen, die ich dort im Laden für Künstlerbedarf kaufen will.«
»Es
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