Chuzpe: Roman (German Edition)
ist nicht in Ordnung, daß du mir nicht gesagt hast, wann du fährst und wann du zurückkommst«, hatte Ruth gesagt.
»Ich fahre nur für einen Tag«, hatte Garth gesagt.
Seine Stimme hatte gereizt geklungen. Er war ihr gegenüber fast nie gereizt. Vielleicht verwischte die Nähe ihre irritierenden Eigenschaften. Vielleicht ließ die Entfernung sie deutlicher hervortreten. Sie beschloß, ruhiger zu sein, vernünftiger.
»Es ist nicht wichtig«, sagte Garth.
Ruth konnte sich nicht beherrschen. »Für mich ist es wichtig«, sagte sie.
»Süße, ich kann dir nicht über jeden Schritt Rechenschaft ablegen«, sagte Garth.
»Warum nicht?« sagte Ruth. Es sollte komisch klingen. Aber es klang nicht komisch.
»Ich fahre mit meinem Vater über das Wochenende nach Shelter Island«, sagte Ruth zu Sonia, als sie das Vang verließen. »Seit Garth weg ist, war ich nicht mehr dort. Ich wollte ohne ihn nicht hinfahren.«
»Ich würde ohne Michael überallhin fahren«, sagte Sonia.
»Das ist nicht komisch«, sagte Ruth.
»Das sollte es auch nicht sein«, sagte Sonia.
Shelter Island war eine kleine Insel, neunzig Meilen von New York entfernt. Man konnte sie nur mit der Fähre erreichen. Die Insel hatte zweiundfünfzig Meilen Strand. Sie war ruhig und friedlich. Die Häuser waren in der Mehrzahl nicht abgesperrt, Autoschlüssel steckten. Ruths und Garths Haus lag einen halben Häuserblock vom Strand entfernt.
Ein Drittel der Insel war Naturschutzgebiet. Es gab alle möglichen wilden Tiere auf der Insel. Es gab viele Frösche und verschiedene Schildkrötenarten. Es gab Schnappschildkröten, Zierschildkröten und Tropfenschildkröten. Es gab Rotwild, Waschbären, Füchse, Streifenhörnchen, Eichhörnchen, Bisamratten, Opossums, Waldkaninchen, Spitzmäuse und Maulwürfe. Es gab mehr als zweihundert Vogelarten, darunter Fischadler und Rotschwanzbussarde.
Edek verabscheute Shelter Island. Zutiefst. Er hatte sich zunächst auf das Erlebnis gefreut, doch dann stellte er fest, daß es auf Shelter Island nichts zu erleben gab. Er freute sich auf Leben, auf Menschen, auf Gehsteige, Schaufenster, Eisdielen, Hot-dog-Verkäufer, auf Feinkostgeschäfte mit gutem Schokoladensortiment. Statt dessen waren die Straßen wie ausgestorben.
Ruth hatte Edek vorgewarnt, daß auf der Insel nicht viel los sein würde. Er hatte gesagt, das sei ihm gerade recht. Alles, was er brauche, sagte er, seien ein Liegestuhl und ein Buch. Ruth hatte nicht damit gerechnet, wie fassungslos Shelter Island Edek machte.
»Was gefällt dir an dieser Insel?« fragte er Ruth.
»Die Ruhe«, sagte sie.
»Ruthie, du hast ein sehr ruhiges Loft in der Stadt«, sagte er.
Es war ihr nicht gelungen, Edek für irgend etwas zu interessieren.Er wollte nicht am Strand spazierengehen. Er mochte keinen Sand. Und er konnte nicht schwimmen. Edek hatte das Wochenende auf der Veranda mit einem Liegestuhl, einem Buch und einem Vorrat extradunkler Côte-d’Or-Schokolade hinter sich gebracht; die Schokolade hatte Ruth im Economy-Candy-Laden an der Rivington Street gekauft.
Jetzt waren sie auf dem Rückweg nach New York und standen in der Schlange für die Fähre nach Greenport. Sie warteten bereits seit einer halben Stunde. Edek war gereizt. Er wartete nie gern. Doch darauf zu warten, Shelter Island zu verlassen, schien seine Geduld auf eine übermenschliche Probe zu stellen. Er stieg mindestens zehnmal aus dem Wagen und wieder ein in dem Versuch, eine andere Fähre ausfindig zu machen oder zu errechnen, wie viele Fähren an- und abfahren mußten, bis er und Ruth mitfahren konnten.
Ruth wollte den Wagen auf dem Parkplatz in Greenport stehenlassen. Sie hatte Plätze für sich und Edek in dem Sunrise-Express-Bus um sieben Uhr nach Manhattan gebucht. An einem Sonntagabend konnte diese Fahrt alles andere als eine Expreßreise sein. Sie konnte bis zu drei Stunden dauern. Ruth hatte Unmengen zu essen und zu trinken eingepackt.
»Warum kaufen sie kein zweites Schiff?« sagte Edek erbittert. »Es ist idiotisch zu haben Schiffe, in was reinpassen so wenige Autos. Sie würden machen viel mehr Profit mit größeren Schiffen.« Er seufzte. »Jetzt ein normaler Mensch, was wohnt an einem normalen Ort, wäre schon zurück in New York.« Ruth wußte nicht, ob sie ihre eigene Normalität oder die von Shelter Island verteidigen sollte. Sie beschloß anzunehmen, daß Edek für seinen Standpunkt ebenfalls eine Reihe guter Gründe haben mochte. Sie hielt den Mund.
»Aber ich glaube, wir werden sein
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