Chuzpe: Roman (German Edition)
Ruth. Sie haßte das Wort »negativ«. Amerikaner führten ständig die Worte »negativ« und »positiv« im Munde. Alles war entweder negativ oder positiv. »Negativ« und »positiv« waren Wörter, die außerhalb eines wissenschaftlichen oder medizinischen Zusammenhangs zu sinnentleerten Allgemeinfloskeln wurden.
»Wir sagen nicht, daß Frauen Ungeheuer sind«, sagte Sonia. »Wir sagen, daß sie nicht solidarisch miteinander sind.«
»Und daß sie sich bemühen sollten, solidarisch zu sein und einander zu vertrauen«, sagte Ruth und kehrte der Frau den Rücken zu.
»Die fragen wir aber nicht, ob sie in unsere Frauengruppe eintreten will«, sagte Sonia.
Sonias Kalbskotelett und Ruths gegrillte Shrimps wurden serviert.
»Wie geht es deinem Vater?« fragte Sonia.
Ruth zögerte. »Irgend etwas ist anders als vorher«, sagte sie. »Er kommt nicht mehr so oft ins Büro. Und ich weiß überhaupt nicht, was er macht. Wenn ich ihn frage, sagt er, er habe zu tun.«
»Hat er dich im Büro nicht um den Verstand gebracht?« fragte Sonia.
»Doch«, sagte Ruth, »aber da wußte ich wenigstens, wo er war und was er tat.«
»Du hörst dich an wie die krankhaft besorgte Mutter eines kleinkriminellen Halbwüchsigen«, sagte Sonia. »Dein Vater schwänzt nicht die Schule. Er ist nicht auf Drogen. Er treibt sich nicht mit den falschen Leuten rum. Er ist erwachsen. Er ist siebenundachtzig. Wahrscheinlich erkundet er New York. Wahrscheinlich ist er auf Freiersfüßen unterwegs.«
»Du meinst, er will Frauen aufreißen?« sagte Ruth.
»Ja«, sagte Sonia, »es sei denn, er hat seine sexuelle Orientierung verändert und will Männer aufreißen.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß er irgend jemanden aufreißen will«, sagte Ruth. »Das unterstellst du nur immer, weil es das ist, was du selber gerne tun würdest.«
»Ich will niemanden aufreißen«, sagte Sonia, »ich will nur einen Liebhaber. Dafür muß ich keine Fremden kennenlernen. Ich würde mich unter den Männern umsehen, die ich kenne.«
»Du hast einen richtigen Plan ausgetüftelt?« sagte Ruth.
»Nein«, sagte Sonia, »ich habe einen ungefähren Plan. Nichts ist ausgetüftelt. Ich bin noch immer hin- und hergerissen und keineswegs sicher, daß es vernünftig ist.«
»Das ist gut«, sagte Ruth.
»Vermutlich ist es das«, sagte Sonia. »Schließlich bin ich verheiratet und habe Zwillinge. Dein Vater ist alleinstehend. Warum sollte er nicht jemanden kennenlernen wollen? Er ist kein Kleinkind. Und er sieht gut aus.«
»Schaust du dir alle Männer genau an?« fragte Ruth. »Sogar Siebenundachtzigjährige?«
»Klar, warum nicht?« sagte Sonia. »Du tust das wohl nie.«
»Nein«, sagte Ruth. »Ich liebe Garth.«
Ruth fand, daß diese Antwort sie ziemlich lahm und farblos erscheinen ließ. Vielleicht sollte ihre Liebe zu Garth sie nicht daran hindern, andere Männer zu beäugen? Warumverwendete sie das Wort »beäugen«, dachte sie. Was würde sie an ihnen beäugen? Sie beschloß, sich nicht weiter in die psychologischen Implikationen möglicherweise harmloser semantischer Entscheidungen zu vertiefen. Und sie versuchte, alle Gedanken daran, daß ihr Vater andere Leute beäugen oder kennenlernen wollte, aus ihrem Kopf zu verbannen. Es war nicht leicht.
»Warum müssen wir über meinen Vater reden?« fragte Ruth.
»Das müssen wir doch gar nicht«, sagte Sonia.
»Du hast ihn ins Spiel gebracht«, sagte Ruth.
»Habe ich das?« sagte Sonia. »Dann habe es vielleicht getan, um nicht darüber zu reden, wie unruhig ich in meiner Ehe bin. Ich liebe Michael wirklich. Und ich bin inzwischen viel netter zu ihm als früher. Als ich einen Liebhaber hatte, habe ich Michael weniger geliebt.«
Ruth fragte sich, wie Sonia die Liebe, die sie früher für Michael empfunden hatte, und die Liebe, die sie jetzt für ihn empfand, so scheinbar mühelos quantifizieren konnte. Wahrscheinlich war es instinktives Wissen. Instinktives Wissen darum, wie geduldig man war, wie tolerant, wie herzlich und vielleicht auch wie liebevoll.
»Michael und ich kommen gut miteinander aus«, sagte Sonia. »Wir sind immer gut miteinander ausgekommen. Wir lieben unsere Töchter. Aber das kann doch nicht alles sein, was das Leben bietet: gemeinsame politische Ansichten, Sachverstand, was den Job des anderen betrifft, Liebe und Zuneigung zu den elfjährigen Töchtern und keine Probleme damit, daß man im Bad auf dem Klo sitzt, während der andere sich am Waschbecken rasiert. Ich komme mir vor wie in einer
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