Chuzpe: Roman (German Edition)
Vergessen Sie’s«, sagte Marvin.
»Und wenn das Restaurant klein und die Miete sehr gering wäre?« fragte Ruth.
»Ich würde noch mal sagen: Vergessen Sie’s«, sagte Marvin.
Ruth war selbst überrascht gewesen, daß sie Marvin gefragt hatte. Wahrscheinlich hatte sie heimlich gehofft, er könnte sagen, so etwas sei möglich. Sie hoffte, ihr Vater würde den Schicksalsschlag bewältigen. Sie hoffte, er würde nicht zu traurig sein, wenn das Projekt scheiterte. Sie hattesich so viele Sorgen über den Schlamassel gemacht, in den ihr Vater sich möglicherweise verstrickte. Sie formulierte den Gedanken um, beziehungsweise, sie korrigierte sich: über den Schlamassel, in den sich ihr Vater garantiert verstrickte. Sie hatte sich Sorgen darüber gemacht, wie ihm zumute sein würde, wenn die ganze Seifenblase platzte.
Sie rief Garth an. »Ich mache mir Sorgen um meinen Dad«, sagte sie.
»Ich habe gestern mit ihm telefoniert«, sagte Garth, »und da ging es ihm blendend.«
»Das ist es ja, was mir Sorgen macht«, sagte Ruth. »Wie soll er damit zurechtkommen, wenn die ganze Restaurantschimäre sich in Luft auflöst? Denn das wird sie tun, noch vor der Eröffnung. Aber ich wünsche ihnen so sehr, daß sie eröffnen können. Und ihren Laden wenigstens einen Monat lang am Leben halten. Ich fürchte allerdings, daß nicht die geringste Aussicht darauf besteht. Um mehr Geld haben sie mich bisher nicht gebeten«, sagte sie zu Garth, »und um Ratschläge erst recht nicht. Nicht daß ich ihnen welche geben könnte. Meinen Rat habe ich ihnen gegeben, als ich von ihren Plänen erfuhr. Ich habe ihnen gesagt, daß ich es für völligen Wahnsinn halte. Seitdem arbeiten sie wie die Irren an ihrem Projekt. Tag und Nacht machen sie Klopse. Sie feilen an ihrer Speisekarte und denken sich neue Sachen aus, neue Klopsabwandlungen, die sie anbieten wollen, wenn ihr Laden erst einmal in Fahrt gekommen ist. Wenn sie ihn gar nicht erst eröffnen können, wird das eine schreckliche Enttäuschung für sie sein.« Sie schwieg. »Vielleicht hätte ich ihnen nie das Geld geben sollen«, sagte sie.
»Du hast völlig richtig gehandelt«, sagte Garth. »Überleg dir mal, wieviel Aufregung und Spaß sie schon dabei hatten. Dein Vater steht mitten im Leben und ist mit echten Dingen beschäftigt.«
Aufregung und Spaß waren zweifellos in Edeks Leben eingekehrt, dachte Ruth. Sie wollte sich nicht darüber auslassen, daß Edek regelmäßig von Zofias Beinen umschlungen wurde. Sie wollte das Bild von ihrem Vater und Zofias Beinen nicht noch lebhafter ausgestalten, als es schon war. Zweifellos war Edek mit echten Dingen beschäftigt.
»Wie viele Leute können schon von sich behaupten, mit siebenundachtzig Jahren ein Restaurant eröffnet zu haben?« sagte Garth.
»Nicht viele«, sagte Ruth. »Und das ist vielleicht besser so. Sonst wäre die gesamte Gastronomie mittlerweile pleite gegangen, die Leute würden wieder zu Hause essen, und die Hälfte der Angestellten aus dem Dienstleistungsgewerbe wäre arbeitslos.«
»Für deinen Vater ist das eine herrliche Sache«, sagte Garth. »Selbst wenn nichts daraus wird, kann er sich anschließend monatelang damit beschäftigen, zu analysieren, was schiefgegangen ist.«
»Sie sind bereits mit vollen Segeln auf dem Weg in ihr Fiasko«, sagte Ruth. »Ich bin an ihrem Laden vorbeigegangen. Er war vollgestopft mit Baumaterial und Maschinen. Und mit polnischen Schreinern und Installateuren.«
»Ich weiß«, sagte Garth. »Dein Vater ruft mich regelmäßig an, um mich auf dem laufenden zu halten, wie billig alle Arbeiten ausgeführt werden. Ich habe ihm stundenlang zugehört. Er hat mir die Kosten jedes einzelnen Postens aufgezählt und mir erklärt, was für ein Supersonderpreis es jeweils war.«
Garth hatte ihrem Vater stundenlang am Telefon zugehört? Garth telefonierte nie stundenlang, egal, mit wem. Er hatte noch nie stundenlang mit Ruth telefoniert. Ruth wurde nervös. Sie beschloß, anzunehmen, daß es Garth nur vorgekommen war, als seien es Stunden gewesen.
Plötzlich kam ihr zu Bewußtsein, daß sie sich nicht daranstörte, daß Garth stundenlang mit ihrem Vater gesprochen hatte. Es störte sie nicht, daß er stundenlang mit ihrem Vater telefonierte, minutenlang oder tagelang. Warum es sie nicht störte, hätte sie nicht sagen können. Aber es war ein gutes Gefühl. Sie merkte, daß sie auch aufgehört hatte zu zählen, wie oft Garth sie anrief. Oder wie regelmäßig. Diese Erkenntnis erschreckte sie
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