Chuzpe: Roman (German Edition)
frühmorgens ging sie schwimmen. Ohne jemals zu jammern. Ruth hatte Zofia noch nie jammern gehört. Zofia sagte nie, sie sei müde. Sie sagte nie, Polen fehle ihr. Sie jammerte einfach nicht.
Ruth mißtraute Leuten, die sich nie beklagten. Sie konnte nicht verstehen, daß sie nicht erkennen konnten, was im argen lag. Irgend etwas lag immer im argen. Ganz besonders bei Leuten, die nicht wahrnehmen konnten, was es war.
»Ich brauche nicht so viel Schlaf«, sagte Zofia. »Wenn man älter wird, braucht man nicht mehr so viel Schlaf. Man schläft anders als früher. Man schläft nie wieder wie ein Baby. Wenn man älter wird, wacht man auf, schläft wieder ein, wacht wieder auf, schläft wieder ein.«
Zofias Erklärung war so sachlich. Sie quälte sich nicht mit Ängsten vor der Schlaflosigkeit. Ruth hatte nie darüber nachgedacht, daß man jenseits der dreißig oder vierzig einfach nicht mehr wie ein Baby oder wie ein Teenager schlief. Zofia nahm die Veränderung im Schlafverhalten als gegeben hin. Sie suchte keine Schlafkliniken auf, um herauszufinden, ob sie unter Schlafapnoe litt oder im Schlaf um sich schlug oder irgendeine andere Schlafstörung hatte.
»Ich kann noch immer schwimmen wie ein junges Mädchen«, sagte Zofia. »Ich kann nicht mehr schlafen wie ein junges Mädchen. Schwimmen ist besser.«
Ruth dachte daran, wie sie selbst im Bett lag und hysterisch wurde, weil sie nicht schlafen konnte. Wie sie im Bett lag und vor Schlafmangel hysterisch wurde. Vor lauter Aufzählen aller möglichen Symptome des Schlafmangels. Schwimmen wäre zweifellos wesentlich bekömmlicher, auch für sie.
»Ihr Vater und ich, wir haben sehr guten Sex«, sagte Zofia. Ruth fiel um ein Haar vom Stuhl. Wie waren sie vom Schwimmen zum Sex gekommen? Und zum Sex mit ihrem Vater?
»Wenn ich meine Beine um ihn schlinge, bin ich sehr glücklich. Und er ist auch sehr glücklich«, sagte Zofia.
Wenn sie ihre Beine um ihn schlang? Warum mußte Zofia ihr das erzählen? Und warum mußte sie hinzufügen, wie glücklich es ihn machte? Daß man seine Beine um jemanden schlang, war ein ziemlich persönlicher Sachverhalt und nicht gerade das naheliegendste Gesprächsthema für eine Unterhaltung mit jemand anderem als der umschlungenen Person. Ruth hatte in ihrem Leben noch nie darüber gesprochen, daß sie ihre Beine um etwas schlang, selbst wenn es nur die Bettdecke war.
Sie war etwas verdattert. Warum hatte Zofia das Bedürfnis, ihr diese Information mitzuteilen, fragte sie sich. Eswürde ihr nicht leichtfallen, die Vorstellung ihres Vaters, den Zofias Beine umschlangen, aus ihren Gedanken zu verbannen.
»Wir essen gut miteinander«, sagte Zofia, »und wir haben guten Sex miteinander.« Ihr Vater, dachte Ruth, hatte gut gegessen, bevor Zofia nach New York gekommen war. Sie dachte, daß er bis zu Zofias Ankunft wahrscheinlich seit geraumer Zeit niemanden gehabt hatte, der seine Beine um ihn schlang.
»Sex ist sehr gesund für eine Frau«, sagte Zofia. »Die chemischen Prozesse im Körper einer Frau verändern sich, wenn sie Sex hat, und Sex ist sehr gut für das Herz und die Leber und die Nieren.«
Wie kam Zofia dazu, sich fachmännisch über die Funktion von Herz, Leber und Nieren zu äußern? Warum eröffnete sie nicht gleich eine kardiologische, gastroenterologische oder nephrologische Praxis? Zofias Ratschläge würden den Patienten zweifellos mehr munden als die Ratschläge, die ihnen die meisten Spezialisten auftischten. Zofia würde wahrscheinlich Sex als Heilmittel für Herzschwäche, Nierenversagen oder Leberfunktionsstörungen empfehlen. Und als Prophylaxe gegen alle erdenklichen Beschwerden.
Zofia hatte nicht den Eindruck gemacht, als erwarte sie einen Kommentar oder eine Antwort von Ruth. Sie schien völlig damit zufrieden zu sein zu sprechen. Ruth war froh. Sie war sich nicht sicher, daß sie viel dazu zu sagen hatte, daß ihr Vater von Zofias Beinen umschlungen war oder daß Sex gut für Herz, Leber und Niere war. Ruth sah Zofia an. Zofia strotzte vor Gesundheit. Ruth war davon überzeugt, daß vaginale Trockenheit Zofia kein Begriff war. Sie war davon überzeugt, daß Zofia noch nie versucht hatte, sich mit rohem Eiweiß feucht zu machen.
»Sex ist auch sehr gut für die Haut«, sagte Zofia. Sie hatte das Schwimmen bereits als Hautpflege angepriesen. Undjetzt war Sex das Richtige für die Haut und für alles andere auch. Sollten Zofias Ansichten jemals einen größeren Hörerkreis erreichen, dachte Ruth, wären sie eine
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