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Chuzpe

Chuzpe

Titel: Chuzpe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Pittler
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ganze Schachtel gleich? Hörst, du bist ja ziemlich gierig, Pokorny!“
    „Die ist doch nicht für mich, Chef, die ist für den Fahrer. Damit er sich nimmer daran erinnert, weshalb wir partout nach Himberg g’fahren sind.“
    Bronstein leuchtete die Argumentation ein. Schweren Herzens schloss er die unterste Schublade seines Schreibtisches auf und holte eine Schachtel „Egyptische Sorte“ hervor. „Da“, sagte er, während er die Packung lässig über den Schreibtisch warf. Pokorny nickte zufrieden: „Wirst sehen, Major, in drei Stund’ hast dein Hendl da am Tisch liegen.“ Bronstein übte sich in Zuversicht.
    Pokorny hatte kaum den Raum verlassen, als Bronstein eine gewisse Melancholie in sich aufsteigen fühlte. Was machte er hier eigentlich? Welche Ordnung sollte er denn noch hüten? Die Monarchie war unwiderruflich am Ende. Ein Staat, der seine Bevölkerung nicht ernähren konnte, der hatte keine Existenzberechtigung. Und wo sich jede Ordnung auflöste, da konnteauch die Polizei nichts mehr tun. Wenn nun schon Frauen aufeinander losgingen, weil sie sich um gewöhnliches Brot stritten, da war endgültig jede Moral perdu. Wenn in diesen Tagen jemand stahl, dann tat er es aus purer Verzweiflung und nicht aus krimineller Veranlagung. Dass an jeder Ecke Bettler standen, wem war dies denn zu verdanken, wenn nicht der Politik, die nicht in der Lage war, die dringendsten Probleme des Volkes zu lösen! Im Parlament redeten sich dutzende Parteien den Mund fusselig, und die einfachen Leute wussten derweilen nicht, wie sie ihre Kinder vor dem Hungertod bewahren sollten. Im Parlamentsrestaurant gab es sicher Hühner, daran war nicht zu zweifeln. Und erst in Schönbrunn! Da schlürfte man ohne Frage Champagner und verlustierte sich an Kaviar. Bronstein mochte gar nicht daran denken, sonst würde er auch gleich zum Revolutionär mutieren – apropos: Er hatte ein Rendezvous! Er hatte doch tatsächlich eine Verabredung! Er fühlte sich wie ein jugendlicher Galan, der erstmals eine junge Dame ausführen durfte. Instinktiv blickte er auf die Uhr. 14 Uhr. Noch genau 30 Stunden, bis er Jelka wieder sehen durfte. Doch war ein Kaffeehaus der richtige Ort, um zarte Bande zu knüpfen? Normal wäre es, die Dame des Herzens zum Essen auszuführen. Aber gab es überhaupt noch Restaurants in dieser Stadt, in denen man etwas zu essen bekommen konnte? Also zu Preisen, die er sich leisten konnte! Wenn schon ein einzelnes Huhn bei einem gewöhnlichen Bauern einen Gulden kostete, dann würde ein Dinner für zwei ein ganzes Monatsgehalt verschlingen. Und bei aller Liebe, bis über beide Ohren wollte er sich denn doch nicht verschulden. Kabarett? Gab es in der Stadt noch Kabarettbühnen? Waren die nicht alle von der Zensur geschlossen worden, weil die Kleinkünstler auf die grenzenlose Niederlagenserie der kaiserlichen Armee hingewiesen hatten, und sei es auch nur in Andeutungen und Anspielungen? Angeblich gab es noch ein paar verruchte Nachtklubs, dochdie waren sicherlich auch sauteuer. Und außerdem konnte jemand wie Jelka ein solches Etablissement nur falsch verstehen. Also würde es wohl doch das Kaffeehaus werden. Das war erschwinglich und unverfänglich. Endlich wandte sich Bronstein, nachdem er diesen Gedanken zu einem Ende gebracht hatte, wieder seinen Akten zu. Gelangweilt blätterte er durch die Berichte aus den einzelnen Kommissariaten. Plünderungen hier, Ausschreitungen da. Nil nove sub sole, sagte sich Bronstein, der sich immer müder fühlte. Wie viele Tatarennachrichten konnte man verkraften? Erstaunt stellte er fest, dass sich auch ein Bericht der Ernährungskommission unter den Akten befand. Schon die Zahlen auf der ersten Seite nahmen ihm den Atem.
    Demnach war die Produktion von Weizen und Roggen in den ersten drei Quartalen des Jahres 1918 um 52 bzw. 55 Prozent gesunken. Die Kartoffelernte hatte nur ein Drittel des letzten Wertes erreicht. Entsetzt schlug er die letzte Seite auf und las die Schlussfolgerungen der Kommission. Wien könne, so hieß es da, bestenfalls, bei Annahme der niedrigsten Rationen und bei denkbar vollständigstem Gelingen der Aufbringung, ein Viertel des Mehlbedarfs, ein Fünftel des Bedarfs an Kartoffeln, ein Zwanzigstel des erforderlichen Speisefetts und ein Vierzehntel des Zuckerbedarfs decken. Von Fleisch war ohnehin keine Rede mehr. Es reicht, sagte sich Bronstein. Das hielt ja keiner mehr aus. Seit Wochen wurde man nur mit Hiobsbotschaften traktiert, es war dringend Zeit für einen

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