Chuzpe
Dinge nicht mehr hatte erinnert werden wollen. Es folgte das Hannerl im Firmkleid, ein Bild von der Familie im Wurstelprater, laut Text am Tag von Hannahs Firmung, und schließlich, als letzte Fotografie in dem Album, ein Bild des Geschäfts von Herrn Nemec, mit dem Hannerl vor der Tür. Handschriftlich war das Datum 1. Juli 1917 hinzugefügt worden.
Es wäre ja zu schön gewesen, dachte sich Bronstein, auf diese Weise Fortschritte zu machen. Na ja, wieder einmal Fehlanzeige. Er klappte das Album zusammen und stand auf. Dabei bemerkte er, dass auf der letzten Seite eine Fotografie eingelegt worden war, denn durch das schnelle Zuklappen war sie ein klein wenig aus dem Album gerutscht. Sie zeigte Hannah Feigl in der ganzen Pracht ihrer 19 Lenze neben einem stattlichen Jüngling in Eisenbahnermontur. Ein markiger Schnurrbart, der entfernt an jenen von Wilhelm Zwo erinnerte, thronte inder Mitte seines Gesichts, die pechschwarzen Haare waren penibel nach hinten gekämmt und dort offenbar mit Pomade fixiert worden. Instinktiv drehte Bronstein das Bild um. In kindlicher Schrift stand da geschrieben: „Ich und mein Schani – für immer, 29. September 1918.“ Das Bild war also gerade erst fünf Wochen alt. Ganz klein im Eck der Rückseite entdeckte Bronstein den Namen des Fotoateliers. Dieses befand sich in der Favoritenstraße, offenbar in unmittelbarer Nähe des Wäschegeschäfts. Bronstein war zufrieden. Auf diese Weise würde er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen können. Und außerdem stand jetzt fest, dass Hannahs Geliebter tatsächlich „Schani“ geheißen hatte. Bronstein überlegte, ob er sich sofort zu den beiden Geschäften auf den Weg machen sollte, doch angesichts der Uhrzeit war er sich sicher, dass diese Mittagspause haben würden. Apropos, sagte sich Bronstein, der Tag war schon recht weit fortgeschritten. Er sollte im Büro Nachschau halten, was Pokorny in der Zwischenzeit in Erfahrung gebracht hatte, und es war sicherlich keine falsche Idee, sich unterwegs etwas Nahrhaftes zu organisieren. Bronstein wandte sich an Pichler: „Herr Kollege, Sie haben mir sehr geholfen. Ich denke, wir sind einige Schritte weitergekommen. Wenn es Ihnen recht ist, werde ich zu Ihnen Kontakt halten und bei Bedarf auf Sie zurückkommen.“
„Aber mit dem allergrößten Vergnügen, Herr Major.“ Der Stolz war Pichler förmlich anzusehen. „Ich wollte nämlich immer schon zum Mord, müssen S’ wissen, Herr Major“, schickte Pichler hinterher. „Na ja, wer weiß, was nicht ist, kann ja noch werden“, übte sich Bronstein in kryptischer Aussage. „Wissen S’ was, das Foto nehm ich mit, vielleicht erkennt den Schani ja wer wieder. Für heute wünsch ich Ihnen einen guten Tag. Sagen S’ bitte der Hausmeisterin, sie soll da wieder absperren. Man sieht sich, habe die Ehre.“ Bronstein wartete eine allfällige Reaktion Pichlers nicht mehr ab und begann, die Treppe abwärts zusteigen. Er verließ das Haus und wandte sich nach links, um sich ins Büro zu begeben.
Bronstein war noch keine hundert Meter gegangen, als ihm an der Ecke der Franzensgasse ein Gasthaus auffiel, in dessen Fenster ein kleines Schild stand: „Nur heute“ war da zu lesen, „gebratene Knackwurst“. Sofort lief Bronstein das Wasser im Munde zusammen. Kein Wunder, er hatte nicht gerade üppig gefrühstückt, und mittlerweile war es beinahe 14 Uhr. Da musste man einfach Hunger haben. Kurz entschlossen trat Bronstein ein. Das Lokal war praktisch völlig leer, ein älterer Herr mit Glatze, der über seinem Gewand eine große weiße Schürze trug, saß grübelnd über einer Zeitung. Als er Bronsteins „Guten Tag zu wünschen“ vernahm, blickte er auf und erwiderte den Gruß, um sodann mit der Frage „Womit kann ich dienen?“ fortzufahren. „Haben Sie diese Knackwurst noch, die Sie da im Fenster anpreisen?“
„Aber sicher, der Herr. Ganz frisch gekriegt. Grad erst gestern.“
Bronstein lächelte: „Na, dann machen Sie mir doch eine!“
„Mit Erdäpfeln? Oder mit Brot?“
„Na wenn schon, denn schon, oder? Also mit Erdäpfeln. Braten Sie s’ nur ordentlich ab, damit s’ schön knusprig sind.“
„Sehr wohl, der Herr.“ Der Wirt verschwand in einem Nebenraum, in dem Bronstein die Küche vermutete. Er warf einen kurzen Blick auf die Zeitung, die nun verwaist auf dem Tisch lag. Es handelte sich um die aktuelle „Wiener Zeitung“. Bronstein nahm sie an sich und setzte sich an einen Nebentisch. „Haben S’ eh nix dagegen, wenn ich mir
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