Chuzpe
eben noch vom kaiserlichen Minister des Äußeren die Rede gewesen war, stand nun über den deutsch-österreichischen Außenminister zu lesen. Der langjährige Anführer der Sozialdemokratie hatte dieses Amt seit acht Tagen inne, und in dieser Funktion hatte er mit dem Geschäftsträger der neuen tschechoslowakischen Republik, Vlastimil Tusar, einem altbekannten Reichsratsabgeordneten und, gleich Adler, Sozialdemokraten, eine Unterredung darüber geführt, dass die neue Regierung in Prag den Chef der deutschböhmischen Landesregierung zur Fahndung ausgeschrieben hatte. Dies war, so wusste auch Bronstein, eines der zahllosen Probleme, die sich nun aus dem Zerfall der Donaumonarchie ergeben würden. Deutschböhmen hatte sich mit Reichenberg als Hauptstadt als eigenes österreichisches Bundesland konstituiert und sich eine eigene Landesregierung gegeben, die bei Österreich zu bleiben wünschte. Die Tschechen und Slowaken beanspruchten das sogenannte Sudetenland aber für ihre Republik, weshalb die Mitglieder der neuen Landesregierung in ihren Augen natürlich Irredentisten waren, gegen die sie nun genauso hart vorzugehen gedachten, wie es die Österreicher vordem mit ihnen gemacht hatten. Da war es einerlei, dass die einzelnen Protagonisten – Adler, Seliger für die Deutschböhmen und Tusar für die Tschechen – samt und sonders Sozialdemokraten waren. Beim Wahren des Besitzstandes hörte sich jede internationale Solidarität auf, wie es schien.
Viel zu schnell war die Portion verzehrt, und mit einer gewissen Wehmut spießte Bronstein die letzte Kartoffel auf, die sichnoch auf dem Teller befand. Er nahm sich vor, sie besonders langsam und gründlich zu kauen, um das Mahl noch ein klein wenig länger genießen zu können, aber natürlich konnte er der Versuchung nicht widerstehen. Nur einen Augenblick später befand sich der Rest der Knollenfrucht bereits auf dem Weg in den Magen. Bronstein spülte den letzten Schluck Bier hinterher und zündete sich dann eine weitere Zigarette an, um sich der letzten Seite der Zeitung zu widmen.
In Klagenfurt hatte eine provisorische Landesversammlung eine neue Landesregierung gebildet, welche die kaiserlichen Organe ihrer Ämter enthoben hatte. Es handelte sich um eine Koalition zwischen Deutschnationalen und Sozialdemokraten, wobei Letztere Ersteren den Vortritt gelassen hatten. Und auch aus Bayern gab es Neuigkeiten. Dort war noch in der Nacht auf Freitag der König gestürzt und eine Republik ausgerufen worden. Der Korrespondent der „Wiener Zeitung“ berichtete, dass nach einer Massenversammlung auf der Theresienwiese das Volk in die Münchner Innenstadt gezogen sei, um vor dem Landtag eine Großkundgebung abzuhalten. Im Landtag sei daraufhin eine neue bayerische Regierung unter der Führung des Sozialisten Kurt Eisner gebildet worden, die sich selbst den Namen „Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrat“ gegeben habe. Als Bezeichnung für den neuen Staat sei „Demokratische und Soziale Republik Bayern“ gewählt worden, wobei man sich offenhalten wolle, aus dem Staatsverband des Deutschen Reiches auszutreten oder nicht. Zuallererst, so habe Eisner angekündigt, solle von allen mündigen Männern und Frauen eine Konstituierende Nationalversammlung gewählt werden, welche dann über das weitere Schicksal Bayerns bestimmen solle.
Die Bayern, wer hätte das gedacht. Bronstein hielt dieses Volk stets für ebenso gemütlich wie konservativ, und dann machten ausgerechnet die so mir nichts dir nichts Revolution. Die saßen doch für gewöhnlich den lieben langen Tag vor ihrem Bier undschimpften über die Preußen! Sicher, die Berliner, die Hamburger, die Bremer, die waren immer schon Revoluzzer, schon seit den Tagen eines Störtebeker, denen hätte er jederzeit zugetraut, dass sie sich gegen die Obrigkeit erhoben. Aber die Bayern? Von denen hätte er felsenfest geglaubt, dass sie noch im Jahr 2000 nahezu ausnahmslos für die Christlich-Sozialen stimmen würden. Wenn es aber das Königreich Bayern nicht mehr gab, wer garantierte dann die Existenz der anderen Monarchien? Warum sollten dann Grafen, Herzöge und Fürsten auf ihren Thronen verharren können? Und vor allem: Wer brauchte einen Kaiser, wenn es keinen König mehr gab?
In Österreich lagen die Dinge zum Glück etwas anders. Da gab es zwar auch einen Grafen von Tirol, einen Markgrafen von Mähren, einen Herzog der Steiermark, einen Fürsten von Siebenbürgen und einen König von Böhmen, doch all das war Kaiser Karl in
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