Chuzpe
gefunden hatte. Eine kleine Kredenz beinhaltete gezählte fünf Teller, zwei Gläser, zwei Tassen und ein paar Löffel, Gabeln und Messer. Auf ihr standen eine Schüssel aus Zinn, eine aus Porzellan sowie ein Schneidbrett samt Brotmesser. Im Wohnzimmer stand eine altmodische Pendeluhr, daneben hatte ein Ohrensessel seinen Platz. Die Mitte des Raumes füllte ein Tisch mit drei Sesseln aus, gegenüber der Uhr hatte man einen Diwan platziert. Unter dem Fenster schließlich ließ sich ein Regal entdecken, das aber außer ein paar alten Büchern nichts enthielt. Ähnlich karg das Schlafzimmer, in dem ein antik anmutendes Doppelbett stand, das links und rechts von Nachtkästchen flankiert wurde. Die Wohnung zu durchsuchen würde nicht lange dauern, dachte sich Bronstein.
Er begann mit dem Schlafzimmer. Unter dem Bett lag nichts, auf dem Bett auch nicht. Das eine Nachtkästchen war vollkommen leer, in dem anderen entdeckte er eine Bibel, die aber nicht so wirkte, als wäre sie oft benutzt worden. Bronstein sah sich noch einmal genau um und befand dann, hier war weiter nichts zu erkunden. Zehn Minuten später konnte er dasselbe auch über das Wohnzimmer sagen. Es war bemerkenswert. Die Frau hatte hier fünf Jahre gewohnt, und recht eigentlich fanden sich nicht die geringsten Spuren von ihr. Wer war diese Hannah Feigl gewesen? Was hatte sie bewegt, was hatte sie in ihrer freien Zeit getan? Diese Wohnung wirkte nicht so, als hätte jemand in ihr gelebt, vielmehr hatte es den Anschein, alswäre sie bestenfalls eine Absteige für Notfälle gewesen. Vielleicht, so überlegte Bronstein, war die Feigl nach dem Tod der Mutter zu ihrem Eisenbahner gezogen, doch dann hätte sie die Wohnung kaum länger gehalten, denn als Aushilfsschneiderin verdiente man sicherlich nicht genug Geld, um eine Unterkunft ungenützt zu halten.
Bronstein hatte im Laufe seines Polizeidienstes schon oft Wohnungen in Augenschein genommen, und fast immer hatten sie einiges über ihre Bewohner ausgesagt. Man wusste danach, ob die betreffende Person Buchliebhaber oder leidenschaftlicher Sammler, ob sie Pedant oder Chaot war, ob sie gerne kochte oder Angst vor einer Hungersnot hatte und darum Lebensmittel hortete. Auch ein Haustier konnte Aufschlüsse geben. In der Regel bekam man also ein ganz gutes Bild von jemandem, frei nach dem Motto: Zeige mir, wie du wohnst, und ich sage dir, wer du bist. Doch diese Feigl existierte an dieser Adresse gar nicht. Alles, was sich hier fand, war vollkommen beliebig und konnte einem ewigen Junggesellen ebenso gehören wie einer alten Jungfer.
Als Bronstein schon jede Hoffnung aufgegeben hatte, in der Wohnung auf irgendetwas Interessantes zu stoßen, öffnete er den Kleiderschrank im Vorzimmer. Doch wie nicht anders zu erwarten, stieß er auch hier auf keine Sensation. Enttäuscht angesichts der ärmlichen Kleidung, die trostlos in diesem Kasten hing, wollte er die Türen schon wieder schließen, als er im Augenwinkel etwas Blitzendes wahrnahm. Er sah genauer hin und fand auf dem Boden des Kastens ein Bilderalbum. Bronstein bückte sich und nahm es an sich. Mit dem Album in der Hand kehrte er ins Wohnzimmer zurück und setzte sich, ehe er es aufschlug. Auf der ersten Seite klebte eine Fotografie, die, wie die Erläuterung ausführte, 1911 in der Josefstadt gemacht worden war. Sie zeigte einen reichlich derangiert wirkenden Herrn Feigl, eine gramgebeugte Brigitte Feigl, deren Gesichtunendliches Leid widerspiegelte, und dazwischen ein pausbackiges Mädel von 13 Jahren mit bemerkenswert langen Goldlocken. Bronstein blätterte um. Ein verfallenes Haus inmitten einer trostlosen Landschaft. Dazu der Hinweis, dies sei das Elternhaus des alten Feigl. Bronstein wunderte sich, dass sich ein Fotograf die Mühe gemacht hatte, diese Ruine aufzunehmen. Gegenüber ein Foto vom alten Feigl in Uniform. Offenbar hatte er bei einem Landwehrregiment gedient, und zwar, wenn der Eintrag daneben stimmte, 1896. Auf Seite 4 dann das obligate Hochzeitsbild, das Bronstein zu der Überzeugung brachte, dass die beiden nur geheiratet hatten, weil das gute Hannerl schon unterwegs war, denn einen solchen Bauch, das wusste er nur zu gut, bekam man nicht einfach vom Fressen. Und wieder blätterte er um. Die nächsten beiden Seiten hatten Bilder enthalten, doch diese waren entfernt worden. Deutlich konnte man noch die Klebespuren erkennen. Auch der dazugehörige Text war unkenntlich gemacht worden. Bronstein hegte die Vermutung, dass die Frau Gitti an gewisse
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