Chuzpe
die Zeitung ausborg’?“, rief er in die Küche. Das Ausbleiben einer Antwort wertete er als Zustimmung. Das Blatt machte seine Titelseite mit Ordensverleihungen und Beförderungen auf. Wie absurd, dachte Bronstein, da ging die ganze Monarchie den Bach hinunter, und der Kaiser überreichte weiterhinAuszeichnungen und Ehrenzeichen, als ob alles noch beim Alten wäre. Was mochte das angesichts der sich unvermeidlich abzeichnenden Niederlage noch bedeuten? Wenn man schon untergeht, dann mit ordenbehängter Brust? Wie lächerlich. Wenigstens ruinierte das bisschen Blech nicht die Staatsfinanzen.
„Was zum Trinken auch, der Herr?“ Der Wirt war in die Schankstube zurückgekehrt.
„Ja bitte. A großes Bier.“
Der Wirt machte sich am Zapfhahn zu schaffen. „Na, was sagen S’, der Herr. Den Strom drahn s’ uns wieder ab. Und des Gas aa. A Waunsinn, was?“
Bronstein wusste nicht, was gegen die Behauptung des Wirten sprechen mochte. Da wurde es jeden Tag kälter und finsterer, und die Monarchie konnte ihren Bürgern nicht einmal mehr das Notwendigste garantieren. Von einer weisen Hand, die das Land da führte, konnte wohl kaum die Rede sein. Mächtig durch des Glaubens Stütze? Was glaubte der Kaiser eigentlich, was er den Bürgern noch alles zumuten konnte? Aber Bronstein war sich ohnehin schon lange sicher, je eher dieser unselige Krieg endlich zu Ende ging, umso besser für alle.
„Recht haben S’, Herr Wirt. A Wahnsinn. Und i les da grad, dass s’ jetzt den Zugsverkehr aa einstellen praktisch. Ab sofort fahrt nur noch ein Zug pro Tag vom Südbahnhof in Richtung Triest oder Laibach, und wer in andere Städte im Süden will, der soll in einen Güterwaggon kraxeln. So a Frechheit, glaubt ma ned, was?“ Man stelle sich vor, dachte er dabei, die Herren Generaldirektoren der Generali-Versicherung, wie sie im Viehwaggon auf dem Boden saßen, umgeben von faulendem Stroh, stinkendem Heu und rostigem Alteisen. Sic transit gloria mundi.
„Ja“, seufzte der Wirt, „es is besser, i sag nix. Sonst red i mi no um Kopf und Kragen. I schau einmal, was die Wurst macht.“
Während der Wirt wieder in den hinteren Gefilden seines Reichs verschwand, zündete sich Bronstein eine Zigarette an und studierte weiter die Berichte in der Zeitung. Auf der nächsten Seite zeigte sich einmal mehr die bizarre Doppelherrschaft, die in den letzten Tagen entstanden war. Der kaiserliche Minister des Äußeren protestierte beim deutschen Geschäftsträger gegen den Einmarsch deutscher Truppen in Tirol. Gleichzeitig ließ der deutsch-österreichische Heeresminister die Grenze zu Deutschland schließen, um eben jenem Einmarsch Einhalt zu gebieten. Dass die Deutschen überhaupt noch versuchten, die Südfront zu sichern, war eigentlich nicht nachvollziehbar, denn, so erfuhr Bronstein an anderer Stelle des Blattes, die deutsche Regierung hatte sich an Marschall Foch mit der Bitte um Waffenstillstandsverhandlungen gewandt. Na bitte, jetzt konnte es nicht mehr lange dauern. Wenn nun auch schon die Deutschen einlenkten, dann war der Sieg der Alliierten praktisch nicht mehr abwendbar. Und das wussten die Alliierten offensichtlich auch, denn in Paris feierte Premier Clemenceau bereits mit seinem Außenminister Pichon eben diesen Sieg, da, wie Clemenceau in der Zeitung zitiert wurde, den Deutschen die Mittel zur Fortsetzung des Krieges fehlten. Von Österreich-Ungarn war da schon gar nicht mehr die Rede.
„Bitte schön, der Herr, Knackwurst mit Erdäpfeln. Lassen S’ Ihnen’s gut schmecken.“
Bronstein bedankte sich und bestellte bei dieser Gelegenheit noch ein Bier. Eigentlich, so stellte er fest, während er genüsslich am ersten Bissen kaute, gefiel ihm diese Gegend. Gegen Dornbach war sicher nichts einzuwenden, aber es war halt doch ein bisschen gar weit vom Schuss. Margareten hingegen war zentrumsnah und wies dennoch eine dörfliche Struktur auf, die den Bezirk überschaubar machte. Wer weiß, dachte sich Bronstein, vielleicht sollte man sich hier einmal nach einer Bleibe umsehen, dann müsste man nicht immer stundenlang mit derTramway ins Büro fahren oder, in Zeiten wie diesen, endlose Wanderungen auf sich nehmen, um nach Hause zu gelangen.
Herzhaft biss Bronstein abermals in die Knackwurst, die der Wirt in zwei Hälften geschnitten hatte, ehe diese in der Pfanne gelandet waren. Dadurch waren sie doppelt angebraten und schmeckten darum umso leckerer. Rundum zufrieden, widmete Bronstein seine Aufmerksamkeit wieder der Zeitung. Wo
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