Chuzpe
wiewohl Dornbach damals schon seit eineinhalb Jahrzehnten zu Wien gehörte, war es immer noch ein kleiner Ort für sich, der kaum mehr als 5.000 Bewohner zählte. Er wies eine beträchtliche Zahl von Einkehrgasthäusern auf, in denen sich auch Bronstein immer wieder gerne aufhielt, auch wenn die goldenen Zeiten Dornbachs wohl unwiederbringlich vergangen waren. Nur noch aus Erzählungen älterer Stammgäste wusste er von den Größen des Dornbacher Varietés, von der „Pascher Pepi“ und dem „Lercherl von Hernals“, vor allem aber von dem Quartett der Gebrüder Schrammel, die bis zum Ende des vergangenen Jahrhunderts wöchentlich in Dornbach zum Tanz aufgespielt hatten. Und ohne Dornbach hätte er wohl auch nie seine Liebe zum Fußball entdeckt. Wann immer es sein Dienstplan zuließ, pilgerte er die hundert Meter stadteinwärts zum Sportclub-Platz, um der Dornbacher Elf beim Spiel zuzusehen. Und immer noch konnte er sich darüber ärgern, dass der Sportclub die allererste österreichische Meisterschaft hauchdünn gegen die aus Hütteldorf verloren hatte, denn so nahe war er dem Titel nie mehr gekommen wie damals anno 1912.
Ja, Dornbach war halt doch eine Welt, in der es sich, die allermeiste Zeit zumindest, trefflich leben ließ. Doch allein von seiner Wohnung bis zum Gürtel waren es rund drei Kilometer, und vom Gürtel zum Präsidium sicherlich nochmals zwei. Das würde er nur in absoluten Ausnahmefällen gehen können. Selbst von hier, der Margaretenstraße, waren es sicher an die drei Kilometer ins Büro. Es war wirklich eine Frechheit, dass die Straßenbahn nicht fuhr!
Doch alles Schimpfen nutzte nichts, anders gelangte man eben nicht mehr von einem Ort zum anderen, wenn man nicht steinreich war und ein eigenes Automobil besaß oder sich ein solches samt Chauffeur mieten konnte. Wenn der Weg von Margareten zum Präsidium nur nicht so weit wäre, dachte Bronstein, und er wunderte sich darüber, wie er diesen Bezirk eben noch als zentrumsnah hatte beschreiben können. Seine einzige Chance bestand darin, überlegte er, möglichst viel abzukürzen. Er würde über die Kettenbrückengasse, die Köstlergasse und die Gumpendorfer Straße zur Rahlgasse marschieren, dort die Stiege zur Mariahilfer Straße hinaufsteigen, um dann zwischen den beiden Museen zum Ring zu gehen. Vom Parlament waren es dann nur noch ein paar hundert Meter, und die würde er zuguter Letzt auch noch schaffen. Er bezahlte also die Zeche und machte sich auf den Weg. So gut er seinen Plan überlegt hatte, die Strecke zum Präsidium schien nicht zu enden. Volle 40 Minuten war er schon unterwegs, ehe er endlich am Parlament vorbeikam. Jetzt noch Rathaus und Universität, sagte er sich, dann haben wir es geschafft.
Stöhnend und keuchend erreichte er seine Arbeitsstelle. Er verharrte einen Moment vor dem Eingangsportal, um wieder zu Atem zu kommen, dann begab er sich ins Innere des Hauses und in weiterer Folge in sein Büro. Dort wartete bereits Pokorny auf ihn.
„Na, Pokorny, wie schau’n wir aus?“ Bronstein war froh, sich auf den Sessel fallen lassen und sich eine anrauchen zu können.
„Nun ja“, begann Pokorny, „ich habe mit der Ehefrau des Herrn von Grabensprung gesprochen, und die ist tatsächlich überzeugt davon, dass ihr Mann entführt worden ist. Es sei nämlich gänzlich gegen seine Art, einfach nicht nach Hause zu kommen. Zudem ist ihr aufgefallen, dass er vor dem Haustor von einem Mann angesprochen wurde, der ihr völlig unbekannt war, während ihr Mann ihn gekannt zu haben schien, denn er sei ihm ohne zu zögern gefolgt.“
Pokorny hielt einen Moment inne und überlegte offensichtlich, irgendeine alte Anekdote einzuflechten, doch Bronstein mahnte ihn zur Eile: „Gemma, gemma, Pokorny, kalt is’ ned, erzähl mir lieber, was die Alte so sicher macht, dass er nicht etwa das Weite gesucht hat.“
„Sie schilderte mir ihren Mann als Ausbund an Sitte und Anstand, weshalb sie auch überzeugt sei, dass er sie niemals im Stich lassen würde, schon gar nicht unter solchen Umständen. Es kostete mich einige Mühe, die Frau einzubremsen. Manche Leute sind wirklich erschreckende Plappermäuler, was umso lästiger ist, wenn diese Leute ohnehin nichts zu sagenhaben. Sie war jedenfalls nicht von der Idee abzubringen, er sei entführt worden, und dass sie gleichzeitig nicht die geringste Ahnung hat, wer für eine solche Entführung in Frage käme, dürfte uns die Arbeit nicht gerade erleichtern.“
„Konnte sie eine Beschreibung
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