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Chuzpe

Chuzpe

Titel: Chuzpe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Pittler
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dann!“ Bronsteins Laune war sprunghaft gestiegen. Sie zahlten und überquerten den Karmeliterplatz, um zu Jelkas Wohnhaus zu gelangen.
    Ab diesem Zeitpunkt wiederholte sich der Handlungsablauf des Vorabends. Sie tranken gemeinsam noch etwas Tee, dann wusch sich Bronstein in der Küche und legte sich anschließend ins Bett, während Jelka ihrerseits in die Küche ging. Nur noch in Unterwäsche, kehrte sie ins Zimmer zurück und schlüpfte ebenfalls unter die Bettdecke. Bronstein rechnete mit keiner neuen Entwicklung mehr, als er plötzlich über einen Satz von Jelka stolperte: „Eigentlich bist du gar nicht so schlecht gebaut für einen Mann deines Alters.“ War das eine Einladung?
    „So? Findest du?“
    „Na, ja“, relativierte sie sogleich, „auf gebaut kommt’s ja nicht an. Was ein Mann kann, das ist entscheidend.“
    „Ach, ich bin ein guter Liebhaber. War ich zumindest einmal, so irgendwann zur Zeit des Wiener Kongresses.“
    „Ach so“, replizierte sie und funkelte ihn lockend mit ihren großen Augen an, „da hast wahrscheinlich den ganzen Comtesserln den Kopf verdreht, was?“
    „Na eher den Wäschermädeln.“
    „Waschen kann ich auch“, hauchte Jelka und bewegte ihren Kopf in schier unendlicher Langsamkeit auf jenen Bronsteins zu, wobei sich ihre Lippen ganz leicht zu öffnen begannen. Bronstein legte seine rechte Hand auf ihren linken Oberarm und kam ihrem Kopf mit dem seinen entgegen. Die Lippen fanden und berührten sich. Die ersten Küsse waren noch suchend, tastend, beinahe ein wenig ungelenk. Doch mit der Erregung stieg auch die Qualität der Küsse, und bald schon steigerten sich beide in eine Art Sinnenrausch. Bronstein begann zu keuchen und registrierte, wie auch Jelkas Atem immer unregelmäßiger wurde. Sie liebkosten sich innig, während sie gleichzeitig darum rangen, die Kleidungsstücke, die sie noch am Leib trugen, auszuziehen.

IV.
Sonntag, 10. November 1918
    Bronstein saß zerschlagen an Jelkas Tisch und schlürfte den Tee in kleinen Schlucken. Er hatte Kopfweh und das Gefühl, Zahnschmerzen zu haben. Und dennoch wurde er das breite Grinsen in seinem Gesicht nicht los. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt eine derart erfüllte Nacht erlebt hatte. Beinahe bis zum Morgengrauen hatten sie sich geliebt. Immer und immer wieder, hatten nicht loslassen können, hatten einander ein ums andere Mal gesucht. Kaum war der eine Orkan über sie hinweggebraust, baute sich schon der nächste in ihnen auf, der sich alsbald Bahn brach. Für Bronstein hatte diese magische Nacht das Ende einer fünfjährigen Irrfahrt durch die Wüsteneien der Einsamkeit bedeutet, und wenn er an Marie Caroline zurückdachte, so musste er diesen Gedanken sogleich korrigieren: Diese Nacht hatte das Ende einer ewigen Irrfahrt bedeutet. Niemals zuvor hatte er etwas Derartiges erlebt, war er mit einer Frau so eins gewesen wie mit Jelka, die, da Bronstein seinen Tee trank, noch eingerollt wie ein Kätzchen in ihrem Bett lag und fest schlief. Bronstein hatte sich stets, wenn die Verzweiflung über sein Alleinsein überhand genommen zu haben schien, gesagt, er warte doch nur auf die Richtige, und so ertappte er sich nun bei der Frage, ob Jelka die Richtige sein mochte.
    Sie war unaussprechlich klug, sie war berückend schön, sie hatte jede Menge Humor, und sie war offensichtlich eine Kanone im Bett, die ihn, Bronstein, in allen Belangen zu Höchstleistungen anspornte. Wer, wenn nicht sie, konnte also die Richtige sein? Dennoch, so spann Bronstein seinen Gedanken weiter, mochte es vielleicht zu früh sein, einen Verlobungsringin Auftrag zu geben. Diese Kommunisten waren, man wusste es, Freigeister. Sie hielten nichts von der bürgerlichen Familie, und es hieß, sie praktizierten die freie Liebe, was nichts anderes bedeutete als jeder mit jedem, wann immer einem der Sinn danach stand. Wer vermochte also zu sagen, ob Jelka nicht einfach nur einer Stimmung nachgegeben hatte? Vielleicht schlief sie morgen schon mit einem anderen? Möglicherweise hatte sie sogar einen anderen, den sie in dieser Nacht mit ihm betrogen hatte. Vielleicht gab es irgendwo einen Berufsrevolutionär, der gerade in geheimer Mission unterwegs war, um an irgendeinem Ort der Welt die Revolution auszulösen, und Jelka war es einfach nur leid gewesen, ewig auf ihn zu warten. Doch wie auch immer die Dinge stehen mochten, für ihn stand fest, Jelka war die Frau seiner Träume. Mit ihr wollte er alt werden! Mit ihr oder mit keiner.
    Die Turmuhr der

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