Chuzpe
den Löffel.
Eine Viertelstunde später kämpfte Bronstein mit der Versuchung, sich eine zweite Portion zu bestellen. Die Krautsuppe hatte ihm so gemundet, dass sie das Bedürfnis nach mehr weckte. Doch er wollte unbedingt vermeiden, Jelka als gefräßig zu erscheinen, und so bekämpfte er sein Hungergefühl mit einer weiteren Zigarette, während ihm Jelka erklärte, worin die Fortschrittlichkeit der Dichter Herwegh, Freiligrath und Heine bestand. All das rief in Bronstein die Erkenntnis hervor, dass er sich endlich wieder einmal mehr mit Literatur befassen musste. Mit Schaudern dachte er an die kärgliche Bibliothek, die er sein Eigen nannte. Er hatte maximal 300 Bände zu Hause – in Wirklichkeit waren es wohl eher 200 –, und da war Meyers Konversationslexikon schon eingerechnet. Für einen Akademiker war das eine Schande. Er würde künftig dieAugen offen halten, denn in Zeiten wie diesen mochte es nicht wenige geben, die aufgrund ihrer Notlage auch Bücher verkaufen mussten. Auf diese Art würde er seine Lücken vielleicht auffüllen können.
Jelka war ganz in ihrem Element und redete beinahe ohne Unterlass. Bronstein beschränkte sich darauf, gelegentlich zu nicken oder auf sonstige Weise Zustimmung zu signalisieren. Ihr Monolog bot ihm Gelegenheit, sich ihr Gesicht einzuprägen und Details an ihr zu registrieren, die ihm bis jetzt noch nicht aufgefallen waren. Eigentlich, so fand er, hatte sie wunderschöne Hände. Trotz ihrer Jugend besaß sie bereits ein paar Falten auf der Stirn, doch die taten ihrem Liebreiz keinen Abbruch, vielmehr verliehen sie ihr eine intellektuelle Note, was Bronstein zu schätzen wusste. Besonders auffällig aber waren ihre Augen, die wie zwei stille, klare Waldseen in der Mitte ihres Gesichts ruhten und von ihrem Haar umrahmt wurden. Bronstein war sich nun endgültig sicher, er hatte sich in diese Frau verliebt.
Doch was würde ihm diese Erkenntnis nützen? Er war Mitte dreißig, sah alles andere als heldenhaft aus und konnte einer Frau wie Jelka nichts, aber auch schon gar nichts bieten. Es war schon nicht erklärbar, weshalb sie sich überhaupt mit ihm abgab, aber dass sie seine aufkeimende Liebe erwidern könnte, dass widerstritt jeder Logik. Bronstein blieb nur, auf eine Art intellektuelle Freundschaft zu hoffen, und selbst die würde ob der unterschiedlichen gesellschaftlichen Stellung schwer aufrechtzuerhalten sein.
„Na, was sagst?“
Bronstein schreckte auf. Anscheinend hatte ihm Jelka am Ende ihrer Vorlesung eine Frage gestellt, die ihm entgangen war, weil er zu sehr damit beschäftigt gewesen war, sie einfach nur anzuschmachten: „Bitte wie? Ich hab noch über deine Aussagen zu Heine nachgedacht.“
„Was du von der Idee hältst, dass wir uns gemeinsam ein Buch vornehmen, das zeitgleich lesen und dann darüber diskutieren.“
Bronstein war begeistert. Auf diese Weise würde er wenigstens immer in ihrer Nähe sein und konnte sie regelmäßig sehen. „Das ist eine sehr gute Idee“, sagte er und strahlte Jelka an. Diese meinte, sie würde sich ein Werk überlegen, mit dem sie einen Anfang machen könnten. Und dann orderte sie noch zwei Schnäpse, weil man einen solchen Entschluss doch entsprechend feiern müsse.
Jelka war offenbar in künstlerischer Stimmung, denn in der folgenden Stunde wiederholte sie ihre Analysen, nur dass diesmal die Malerei im Vordergrund stand. Damit konnte Bronstein nun schon überhaupt nichts anfangen, und er fühlte, wie er sich allmählich zu langweilen begann. Verstohlen linste er auf die Uhr und stellte dabei fest, dass es knapp vor 23 Uhr war. Gern hätte er einen Themenwechsel vorgeschlagen, doch gerade an diesem Abend fiel ihm so gar nichts ein, worüber er mit einer Frau hätte diskutieren können. Zudem war Jelka von ihren Kunstbetrachtungen so angetan, dass er ihr weder Spaß noch Stimmung verderben wollte. Er zündete sich eine weitere Zigarette an und hörte ihr unverwandt zu.
Ein markantes Gähnen unterbrach den Sprachfluss. Es kam von Jelka. „Du, ich glaube, ich werde langsam müde. Wollen wir nach Hause gehen?“
Dieser Vorschlag war sehr abrupt gekommen. Bronstein wollte sich noch nicht von Jelka trennen, doch er wusste nicht, wie er dies verhindern konnte. In seiner Verzweiflung maulte er etwas von wegen Kälte und weitem Weg, der ihm alles andere als erstrebenswert erscheine.
„Dummerchen“, lächelte Jelka, „ich dachte, derlei hätten wir hinter uns. Ich habe diesmal sogar ein Frühstück zu Hause.“
„Na
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