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Chuzpe

Chuzpe

Titel: Chuzpe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Pittler
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nicht wissen, sag ich dir. Reden wir lieber über etwas anderes. Wie hältst du es eigentlich mit der Literatur?“
    Die Frage überraschte Bronstein: „Wie kommst du jetzt darauf?“
    „Der Werfel. du weißt schon, der im Herrenhof auch an unserem Tisch gesessen ist. Der ist Dichter. Er hat ein paar Gedichtbände veröffentlicht, die aber ganz und gar nicht meine Kragenweite sind. Ich lese ganz andere Sachen. Die Russen zum Beispiel, aber auch etliche Deutsche. Die in München etwa, der Eisner, der Toller, der Mühsam, die haben wirklich gute Sachen geschrieben. Und erst die Franzosen! Schon einmal von Rimbaud gehört? Oder von Apollinaire? Das sind wahre Poeten!“
    „Das heißt, du bist nicht nur Revolutionärin, du bist auch noch eine Kunstliebhaberin.“
    „Das ist viel zu hochtrabend. Aber die Kunst spiegelt, wenn sie wirklich gut ist, das wahre Leben wider. Und das gelingt nur ganz wenigen. Die meisten Künstler sind prätentiöse Egozentriker, die glauben, eine Nabelschau sei bereits ein Blick auf die Welt. Vor allem diese blutleeren Möchtegern-Poeten aus der Bourgeoisie, die irgendwelche schwülstigen Liebes- oder Naturgedichte zu Papier bringen, die sind ja kaum auszuhalten. Bürgerliches Trauerspiel, das ist wirklich eine treffende Bezeichnung, denn was diese Kathederblütensammler so von sich geben, das ist wahrlich ein einziges Trauerspiel. Aber sag mir, David, liest du auch gerne?“
    Bronstein druckste ein wenig herum. Wann hatte er zuletzt wirklich ein Buch gelesen und nicht bloß gelangweilt darinhin- und hergeblättert? „Schon“, sagte er endlich, „aber ich fürchte, ich bin mehr der konventionelle Leser.“ Jelka machte ein fragendes Gesicht. „Na ja, Schiller zum Beispiel, den mag ich sehr gerne. Und Lenz und Büchner. Und in meiner Jugend habe ich sehr gerne Stifter gelesen.“
    Jelka lächelte. „Das ist doch immerhin ein Anfang. Darauf kann man aufbauen. Wenn man Schiller erst einmal von diesem ganzen deutschtümelnden Brimborium befreit, mit dem er heute gerne umwolkt wird, dann kann man nämlich erkennen, dass auch er ein Freiheitsdichter war. Man sehe sich nur seinen Tell an. Und natürlich die Räuber.“
    „Ja, das sehe ich auch so“, sagte Bronstein, um durch diese Zustimmung Jelka gewogen zu machen.
    „Na, und der Büchner sowieso. Wenn man einmal seinen hessischen Landboten gelesen hat, dann kann man nicht mehr teilnahmslos danebenstehen, wenn irgendwo Unrecht geschieht. Und mit dem Woyzeck hat er eine brillante Analyse der Unterdrückung der Arbeiterklasse geliefert.“
    „Ach so?“ Bronstein meinte, sich düster an dieses Stück zu erinnern. Irgendein Soldat wird wahnsinnig, weil seine Frau eine Affäre mit einem anderen Mann hat, einem Trommler, soweit er sich entsinnen konnte. Und deshalb bringt er sie am Ende um. Was hatte das mit der Arbeiterklasse zu tun?
    „Ich fürchte, ich kann dir nicht ganz folgen. Was hat das mit der Arbeiterklasse zu tun?“
    „Aber, David, ich bitte dich. Das ist doch offensichtlich. Woyzeck ist ein armer Schlucker, der von allen nur schikaniert wird. Von seinen Vorgesetzten, von den Ärzten, von den Geschäftsleuten. Er fügt sich in diese Unterdrückung, solange er die heile Welt im Kleinen zu haben meint. Als seine Angebetete dann aber ein Pantscherl mit einem Tambourmajor eingeht, flüchtet Woyzeck in den Wahnsinn, eben weil er sich nicht zur revolutionären Tat aufraffen kann.“
    Bronstein kratzte sich verlegen am Kopf. „So habe ich das noch gar nicht gesehen“, meinte er endlich.
    „Natürlich nicht. Weil du es nicht gewohnt bist, Literatur vom Klassenstandpunkt aus zu interpretieren. Gerade darum sind ja all diese Romane, die in der Welt der Oberen Zehntausend spielen, so schädlich, weil sie sich direkt an die Arbeiterklasse wenden und versuchen, sie von der Analyse ihrer eigenen Lage abzulenken. Besonders schlimm sind diese Liebesschnulzen, in denen der Graf am Ende die Magd heiratet. Damit soll vorgetäuscht werden, man könne individuell sein Glück finden. Doch die Arbeiterklasse wird nur als Klasse ihr Glück finden, sie kann nur geeint siegen, oder sie wird untergehen.“
    Bronstein sah Jelka mit einem Anflug von Bewunderung an: „Es ist erstaunlich, was man alles herausfinden kann, wenn man den Dingen nur ordentlich auf den Grund geht.“
    „Genau“, lachte Jelka, „jetzt gehen wir einmal dieser Suppe auf den Grund.“ Sie hatte den Wirt mit zwei Schüsseln aus der Küche kommen sehen und zückte erwartungsvoll

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