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Chuzpe

Chuzpe

Titel: Chuzpe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Pittler
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ist eigentlich eine Ungeheuerlichkeit, dass dieses Österreich erst jetzt endlich überwunden wird.“
    Bronstein fand diese Argumentation nicht unschlüssig. Er erinnerte sich daran, dass die Monarchie noch während des Krieges hart gegen die Führer der einzelnen Nationalitäten vorgegangen war. Zahlreiche Abgeordnete waren nur knapp einem Todesurteil entgangen, wiewohl sie als Mandatare eigentlich immun vor Strafverfolgung gewesen waren. Der Fall Markow fiel ihm ein, weil er als Polizist selbst am Rande in die Sache involviert gewesen war. Dem Vertreter Lembergs hatte man Spionage für die Russen unterstellt und ihn zum Tod durch den Strang verurteilt, dem er nur entgangen war, weil der alte Kaiser rechtzeitig gestorben war und der neue nicht gleich mit einem Meuchelmord an einem Repräsentanten des Volkes hatte beginnen wollen. Auch dem Anführer der Jungtschechen, Karel Kramaˇr, war Spionage für die Russen vorgeworfen worden, bloß weil er mit einer Russin verheiratet war. Die Todesstrafe hatte der Kaiser in lebenslängliche Haft umgewandelt, und nun war dieser Kramaˇr Premier der neuen Tschechoslowakei. Doch ein italienischer Abgeordneter war tatsächlich hingerichtet worden, erinnerte sich Bronstein, der sich darüber ärgerte, dass ihm dessen Name nicht mehr einfiel. Irgendetwas mit Johannes dem Täufer war es gewesen. Battista oder so ähnlich, den hatte man in Trient gehängt, und seitdem galt er den Italienern als Märtyrer. Hielt man sich diese Fakten vor Augen, dann konnte man verstehen, weshalb die Völker der Monarchie von ebendieser nichts mehr wissen wollten.
    „Aber versteht doch“, rang Spitzer zwischenzeitlich um Anteilnahme, wobei sich seine Augen einmal mehr vor schiererAngst weiteten, „es wollte doch niemand euren Tod. Als unsere Majestät der Kaiser eure Dienste beanspruchte, da verlangte er doch nicht, dass ihr sterbt, er wollte, dass ihr euer ureigenes Land verteidigt, egal, welcher Nation ihr auch immer angehört, er wollte, dass ihr lebt, und dass ihr siegt.“
    „Er lügt das Blaue vom Himmel“, schnarrte Nemeth und spuckte dabei verächtlich aus, „sie machen, was sie immer schon gemacht haben. Greifen zu wohlklingenden Worten, um die Wahrheit zu verschleiern. Jahrhundertelang haben sie uns mit solchen Reden den Kopf verdreht. Aber damit muss jetzt ein für alle Mal Schluss sein.“
    Zustimmendes Gemurmel erhob sich unter den Männern, und Bronstein kam ernstlich ins Wanken. Wie sollte man einen Mann verteidigen können, der so offensichtlich eitel im Irrtum verharrte und selbst jetzt noch nicht verstanden hatte, wie sehr sich Habsburg gegen seine Untertanen versündigt hatte. Die Männer hatten recht. Ihren Völkern hatte man beharrlich alle Rechte verweigert, hatte sie niemals an der Gestaltung der politischen Belange der Monarchie mitwirken lassen, und dann verlangte man auf einmal von ihnen, dass sie für ebendiese Monarchie den Kopf hinhielten. Das war ebenso dreist wie dumm gewesen.
    Er selbst konnte sich noch an die Krawalle in Wien erinnern, als Ministerpräsident Badeni den Böhmen das Recht hatte einräumen wollen, in ihrem eigenen Land ihre eigene Sprache im öffentlichen Bereich zu verwenden. Die deutschnationalen Parteien hatten so lange getobt, bis diese Vorlage vom Tisch war – und Badeni zurücktreten musste. Die Slawen hatten jeden Grund, der Monarchie zu grollen, egal ob es sich um die Böhmen, die Polen oder die Südslawen handelte. Sie waren tatsächlich stets benachteiligt worden, und so war es eigentlich ein Wunder, dass sie der Monarchie so lange die Treue gehalten hatten. Und Spitzers Rechtfertigung, so dachte Bronstein, warschlicht erbärmlich. Jeder, der auch nur ein bisschen von Strategie verstand, hätte damals erkannt, dass ein solcher Angriff schierer Mord war. Er erfolgte zur falschen Zeit, mit ungenügenden Mitteln und ohne jede Überlegung. Es war vom ersten Moment an völlig klar gewesen, dass er nur zahllose Männer das Leben kosten würde, ohne dass die geringste Chance bestanden hatte, die Unterstände der Gegenseite auch nur zu erreichen.
    Es mochte schon sein, dass das Oberkommando dafür die eigentliche Verantwortung trug, aber Spitzer hatte die Order willig befolgt, ohne auch nur eine Sekunde daran zu denken, was dies für die Männer bedeutete. Er hatte dieses Massensterben willentlich und wissentlich in Kauf genommen, und so gab es auch für Bronstein nichts, das er der Anklage des Jakob Müller hätte entgegenhalten können. Und so

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