Chuzpe
g’hört, den Seydel! Na ihr werdet einen Spaß haben. Ich hör das schon richtig“, sagte er mit Verbitterung und äffte den Kollegen nach: „Na …alsdern … meine … Herren. Haben wir schon … ich meine, wissen … wir schon … wie? Was? Wie schau’n wir … aus, mein ich.“
Bronstein verbiss sich trotz des Ernsts der Lage ein Lächeln. Der Stotterer aus dem Präsidium war wirklich gut getroffen. „Das ist doch ein Witz“, fauchte der Vize, „den Trottel befördern die. Was soll das für ein Staat sein, der zielsicher die unfähigsten Idioten an die Spitze stellt und auf Erfahrung, Wissen und Kenntnis verzichtet! Glauben S’ mir, das geht niemals gut. Das kann gar nicht gutgehen!“
Bronstein wurde mit einem Mal bewusst, dass auch er sich umorientieren musste. Die Vorgesetzten waren immer schon gekommen und wieder gegangen, aber der Wechsel einer Regierungsform war denn doch ein Novum in der Geschichte des Landes. Na ja, mit dem Seydel würde man wenigstens leichtes Spiel haben, der konnte ohnehin keiner Debatte folgen. Er würde ein wenig herummaulen, aber er würde sich aus dem Tagesgeschäft heraushalten. Die Information mit Linz war da hingegen schon beunruhigender. Ein Provinzler, der würde sich möglicherweise zum Scharfmacher berufen fühlen, um den Mangel seiner Herkunft zu kompensieren. Fieberhaft dachte Bronstein nach, wen er in Linz kennen mochte, um rechtzeitig Informationen einholen zu können, wer für einen solchen Karrieresprung in Frage kam. Doch für den Augenblick fiel ihm partout niemand ein.
„Wollten S’ nicht auf einen Kaffee gehen?“
„Doch, Herr Präsident. Wenn Sie mich im Augenblick nicht brauchen, würde ich mich gerne entfernen.“
„Gehen S’ ruhig, Bronstein, gehen S’ ruhig. Uns geht das alles ja eigentlich eh nix mehr an. Ich werd morgen meinen Schreibtisch ausräumen, und am Mittwoch am Vormittag, da schau’n S’ bei mir auf ein Glaserl vorbei, dann stoßen wir noch einmal an, gelt! Auf die alten Zeiten. Weil auf die neuen, dabrauchst gar nicht erst Prost sagen. Da kannst dich nur mehr ansaufen. … Na egal. Wissen S’ was, Bronstein, vertreten S’ Ihnen in aller Ruhe die Beine. Wir treffen uns wieder hier um dreiviertel eins. Einverstanden?“
„Sehr wohl, Herr Präsident. Und danke für die Einladung. Ich komm sehr gern.“
Bronstein warf noch einen Blick auf den Vizepräsidenten, der nun unendlich traurig wirkte, und stieg dann rasch aus dem Wagen. Er querte den Minoritenplatz und kam so in die Herrengasse, wo er auf das „Herrenhof“ zuhielt. Er hoffte, Jelka dort anzutreffen, doch er wäre schon zufrieden gewesen, Kisch vorzufinden. Irgendeine bekannte Seele, der er sich anvertrauen konnte. Es mochte schon sein, dass die Monarchie endgültig am Ende war und ihr just an diesem Montag die allerletzte Stunde schlug, aber ihm ging die Causa Spitzer noch viel zu sehr an die Nieren, um an das Kaiserreich denken zu können. Was er in diesen Stunden erlebt, vielmehr: noch einmal erlebt hatte, das würde er so schnell nicht wieder vergessen können. Und trotz der Schwere dieser Ereignisse, die wie ein Alp auf seiner Seele lasteten, musste er dennoch auch daran denken, Jelka am Vorabend versetzt zu haben. Wie, so fragte er sich, würde sie das aufgenommen haben? Würde sie sich von ihm betrogen fühlen und daher nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen, oder würde sie ihm die Chance einräumen, ihr zu erklären, was ihn verhindert hatte? Mit nervöser Bangigkeit betrat er das Café.
Trotz der frühen Stunde hingen schon dichte Rauchschwaden im Raum, sodass Bronstein Mühe hatte, sich zu orientieren. Der Tisch, an dem Kisch üblicherweise saß, war leer, und der Major spürte eine große Enttäuschung in sich aufsteigen. Doch da quietschte plötzlich jene Tür, die zu den Sanitärräumen führte, und Kisch stand im Raum. Kaum hatte er Bronstein erblickt, stürzte er schon auf ihn zu. „Bronstein, hast duirgendwelche Neuigkeiten? Stimmt es, dass der Kaiser eben eine Abdankungsurkunde unterfertigt? Wir haben gehört, Lammasch will noch heute zurücktreten, ohne dass ein Nachfolger für ihn ernannt werden soll. Damit wäre die Doppelherrschaft zwischen dem Kaiserreich und Deutschösterreich beendet, damit gäbe es nur noch die Regierung von Renner, Adler und Konsorten. Weißt du da etwas darüber? Welche Informationen habt ihr?“
„Keine. Auch wir sind zurzeit völlig auf Gerüchte angewiesen. Ich weiß nur, dass meine Vorgesetzten allesamt ihrer
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