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Chuzpe

Chuzpe

Titel: Chuzpe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Pittler
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denn es wäre ja möglich, dass Deutschösterreich eineMonarchie sein will, aber seien wir ehrlich, das ist höchst unwahrscheinlich. Die Sozis wollen auf jeden Fall eine Republik, die Deutschvölkischen wollen einen Anschluss an das Reich, und die Christlichsozialen werden sich auch nicht gerade für die Habsburger in die Bresche werfen. Und dadurch, dass der Kaiser die Demission von Lammasch annimmt, ohne ihn, wie es normalerweise üblich wäre, mit der Fortführung der Geschäfte zu betrauen, übernehmen automatisch die deutschösterreichischen Pendants der Minister die jeweiligen Ressorts in Alleinverantwortung. Die Monarchie verschwindet durch die Hintertür.“
    „Aber wenn der Kaiser abdankt“, warf Bronstein ein, „dann heißt das doch noch nicht, dass die Monarchie zu Ende ist. Das war doch bei Güti …, bei Ferdinand dem Gütigen auch so. Er dankte ab, und Franz Joseph folgte ihm nach.“
    „Ja, aber damals war das doch eine völlig andere Zeit. Heute ist eine solche Lösung nicht mehr durchsetzbar. Außerdem ist Otto gerade einmal sechs Jahre alt. Ein Kind als Kaiser? Vergessen Sie’s!“
    „Das heißt, das war’s dann also. 640 Jahre weggewischt mit einer Unterschrift.“ Bronstein war trotz allem überrascht. Natürlich war seit Jahren über den Untergang der Monarchie gemutmaßt worden, und es hatte nicht an Kassandrarufen gemangelt, die ein Ende der Habsburgerherrschaft vorhergesagt hatten. Aber nun, da das Ende wirklich gekommen war, nun war es doch irritierend. Es traf einen irgendwie unvorbereitet. Es war so wie die Geschichte mit der alten Verwandten, die seit Jahrzehnten jeden Tag darüber wehklagte, dass sie auf den Tod krank sei. Man gewöhnte sich an das Gejammer und nahm es dementsprechend nicht mehr ernst. Und wenn die Alte dann wirklich das Zeitliche segnete, dann stand man fassungslos da und wollte es nicht wahrhaben. Bronstein mochte sich nicht ausmalen, was jetzt passieren würde.
    „Na ja“, hörte er den Vizepräsidenten, „wenigstens wird das da jetzt eine leichte Übung. Die werden nicht lange brauchen, umso früher können wir alle heim. Aber für Sie, Bronstein, habe ich eine ganz spezielle Aufgabe. Sie dürfen sich heute zwar ausruhen, aber morgen sind Sie eingeteilt zur Unterstützung der Sicherheitskräfte im Reichsratsgebäude. Wir sind von der deutschösterreichischen Seite darüber informiert worden, dass für morgen die dritte Sitzung der provisorischen Nationalversammlung geplant ist, bei der die Republik ausgerufen werden soll. Zuerst gibt’s noch eine Sitzung des Abgeordnetenhauses, dann die der Nationalversammlung, und um 16 Uhr soll vor dem Gebäude dem Volk die Frohbotschaft überbracht werden. Nun gibt es Hinweise darauf, dass die Kommunisten da auch etwas vorhaben, und darum werden wir morgen jeden Mann brauchen, um die Ordnung auf jeden Fall aufrechterhalten zu können. Sie finden sich morgen also um 10 Uhr an der Parlamentsrampe ein und melden sich dort beim zuständigen Offizier der Wache. Der wird Sie dann entsprechend einweisen. So, das wäre besprochen. Jetzt warten wir da, bis die Minister a. D. in spe herauskommen, weil dann können wir endlich heimgehen und diesen Tag vergessen.“
    Bronstein sah melancholisch aus dem Fenster an seiner Wagenseite. Wie schnell das jetzt alles gegangen war. Vier Jahre lang war die Monarchie, allen Niederlagen zum Trotz, wie ein Fels in der Brandung gestanden, und selbst nach dem Tod des alten Kaisers hätte niemand geglaubt, dass diesem Staat so bald die Totenglocke läuten würde. Aber war das nicht immer so in der Geschichte? Wer hätte vor zwei Jahren geglaubt, dass in Moskau irgendwelche verfemten und verfolgten Umstürzler an der Macht sein würden? Oder wer hätte 1787 zu prophezeien gewagt, in zwei Jahren würde es in Frankreich eine Revolution geben? Ein Staat war immer nur so mächtig, für wie mächtig man ihn allgemein hielt. Kamen seine Gegner ersteinmal dahinter, wie schwach er war, dann war er meist ganz rasch von der politischen Bühne gefegt. Eigentlich war so ein Staat ein Kartenspieler, der bluffte. Ich habe das beste Blatt in der Runde, postulierte er, und er gewann, solange man ihm glaubte. Tat man das nicht mehr, musste er den Wahrheitsbeweis antreten, was auch schon oft in der Geschichte geschehen war. Nicht wenige Revolutionen hatte man blutig niedergeschlagen, die 48er zum Beispiel, oder jene in Frankreich vor rund fünfzig Jahren. Konnte man das als Staat aber nicht oder schreckte man davor

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