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Ciao Tao

Ciao Tao

Titel: Ciao Tao Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hen Hermanns
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und nach weiteren 20 Minuten war ich im Martinsviertel und lief unter Alwines Fenster vorbei. Ich entschloß mich, Richtung Rodenkirchen zu laufen. 30 bis 35 Kilometer würden mir jetzt guttun. Ich sah aus wie ein richtiger Marathon-Crack. Ich trug einen Trainingsanzug mit der Aufschrift >New York Road Runners Club< und eine Schirmmütze, auf der >New York Marathon< aufgedruckt war. Ich zog das Tempo an. Ich war in Top-Form. Ich war verliebt. Und ich war vielleicht bald tot, wenn ich jetzt nicht aufpaßte. Wir werden oft von Gefühlen beherrscht, weil das Limbische System (in dem die Emotionen wüten) den Neokortex (also den eigentlichen Denkapparat) einfach überrollt. Bestimmte Sinnesreize können nämlich sofort ins Limbische System gelangen, ohne vorher im Thalamus (Zwischenhirn) richtig interpretiert zu werden. Wenn wir beispielsweise im Augenwinkel ein Objekt wahrnehmen, das an eine Schlange erinnert, kann uns das Limbische System in einen Panikzustand versetzen, bevor überhaupt ein Denkprozeß die Lage geklärt hat. Ich nahm im Augenwinkel nur etwas Dunkles wahr und zuckte zusammen. Es war keine Schlange, sondern ein schwarzer Audi, dessen leises Motorgeräusch ich auch jetzt erst wahrnahm. Er schob sich an mir vorbei. Das Fenster auf der Fahrerseite glitt automatisch herunter. Ich hechtete hinter einen Blumen-Betonkübel, der mir wohl kaum ausreichenden Schutz geben konnte. Der Audi hielt an, und ein großer dunkler Typ mit einem großen dunklen Schnäuzer und einer großen dunklen Lederjacke stieg aus. Das war’s dann wohl.
    »Entschuldigen Sie, Herr Reinartz«, sagte der Schnäuzer. »Wir sehen nur hin und wieder mal nach dem Rechten, wenn Sie so laufen. Ganz schön in Form, muß ich schon sagen.«
    »Danke, danke«, sagte ich. »Und jetzt auch noch mit ein paar schönen Hautabschürfungen.«
    »Gutes Reaktionsvermögen. Seien Sie froh drüber«, lobte Schnäuzer. »Wir haben Sie jetzt einige Tage beobachtet. Keine besonderen Vorkommnisse. Bei Ihnen was Neues?«
    Schnäuzer war mir nicht besonders sympathisch. »Wie Sie sehen, lebe ich noch.« Das mit der offenen Wohnungstür ließ ich weg.
    »Ja, dann leben Sie wohl, Herr Reinartz«, konterte Schnäuzer unerwartet intelligent. »Ich denke, wir können da jetzt auch nicht mehr viel machen. War sicher nur ein Zufall, das Ganze. Tschüs, schönen Tag noch.«
    Und dann spielte der Kerl Miami Vice und jagte mit quietschenden Reifen davon.
    Aber er hatte recht. Es mußte ein Zufall gewesen sein. Und wenn doch alles ganz anders gewesen war? Dann mußte mich jemand schon lange beobachtet haben und meine Trainingsstrecke und die Zeiten kennen. Die Bullen hatten mir gerade gezeigt, wie leicht das war. Aber wer verdammt sollte es sein? Wer konnte wirklich so einen Haß auf mich haben? Ich ließ ein paar Gesichter und Geschichten an mir vorüberziehen, als ich weiter in Richtung Rodenkirchen lief. Gut, da waren manche Sachen passiert, über die man unterschiedlicher Meinung sein konnte. In meiner letzten Agentur vor W.A.T.CH. hatte ich mich mit aller Kraft dafür eingesetzt, daß ein Art-Director gefeuert wurde, mit dem ich einen Etat bearbeiten mußte. Der Typ quatschte den ganzen Tag dummes Zeug und verließ sich immer darauf, daß ich eine Idee hatte. Er hatte niemals eine. Er war noch nicht mal in der Lage, meine Ideen wenigstens vernünftig umzusetzen. Und er trug einen Zopf. Dann gab es noch einen Kontakter, der Scheiße gebaut hatte und mir das in Anwesenheit eines Kunden in die Schuhe schieben wollte. Also ließ ich ihn hochgehen. Ebenfalls in Anwesenheit des Kunden, versteht sich. Seiner Karriere bekam dieser Vorfall nicht besonders. Gut, und dann war da noch diese kleine Affäre mit einer Grafikerin, bei der ich nicht besonders toll aussah. Ihr Typ hatte mich verprügeln wollen, und ich hatte ihm das Nasenbein gebrochen. Ich bin nicht besonders kräftig und kampferprobt, deshalb schlage ich eben sofort und so fest zu, wie ich kann, wenn es denn sein muß. Aber das war Notwehr. Und es war lange her, und die beiden latschten jetzt mit Birkenstock-Sandalen auf einem Bauernhof bei Braunschweig herum und verkauften angstfrei aufgezogene Ökokartoffeln und psychoanalysierten Blumenkohl. Ich war jetzt ungefähr 70 Minuten unterwegs. Die ersten Endorphine wurden freigesetzt und bescherten mir ein kleines Runner’s High. Ich war entspannt und bestens gelaunt. Es gab niemanden, der einen wirklich ernsthaften Grund hatte, mich umzubringen. Es mußte ein Zufall

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