Ciara
hatte, zog ihn an, obwohl ihm selbstbewusste Frauen immer zu anstrengend gewesen waren.
»Ich habe doch gerade gesagt …«, begann Paul seine Worte zu wiederholen.
»Ich habe sie gefragt«, unterbrach Mike und zeigte auf Ciara.
»Also gut. Sag du es ihm.«
»Was soll ich ihm sagen? Ich habe einen Fremden in meinem Haus gespürt und eben erkannt, dass er es war.«
»Aber es war nur ein Traum, nichts weiter. Ich habe das nur geträumt! Ich bin zu Hause aufgewacht, in meinem Bett, es war nur ein Traum«, beteuerte Mike und fühlte sich wie eine Maus, die zum Spielzeug zweier hungriger Katzen geworden war.
»Sie hat telepathische und vermutlich auch parapsychologische Fähigkeiten«, erklärte Paul.
»Mit denen sie meine Träume spürt?! Das ist absoluter Schwachsinn.«
»Und das ist nur ein Bruchstück ihrer Besonderheit«, ergänzte Paul.
»Hör doch auf damit! Sie gefällt dir. Das kann ich gut verstehen. Aber musst du ihr deswegen jeden Schwachsinn glauben? Und sie auch noch in ihrem Wahn bestärken?« Mikes Bedarf an unsinnigen Theorien war vorerst mehr als gedeckt.
»Du hast ja keine Ahnung …«
Ciara verließ die Bibliothek. Als sie Rat und Trost im Zimmer ihrer Mutter suchte, verhallten die lauten Stimmen der streitenden Männer. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, seit sie den Raum das letzte Mal betreten hatte – eine Ewigkeit von nur drei Tagen. Ihr Blick fiel auf den Fußboden, wo das Buch ihrer Mutter nach wie vor aufgeschlagen lag, das Tagebuch, das ihr bis zu ihrem Geburtstag unbekannt gewesen war. Erst das Frettchen hatte es von einem der oberen Regalbretter heruntergeschubst, nachdem Ciara den vor der Haustür winselnden und am Holz kratzenden Marder hereingelassen hatte und dieser, als jage eine Horde wilder Köter hinter ihm her, die Treppe hinaufgesaust, in diesen Raum gehetzt und auf das Regal gesprungen war.
Aus dem unteren Fach des Schrankes suchte sie fünf dicke weiße Kerzen heraus, stellte diese kreisförmig auf den Boden oberhalb der abgebrannten Kerzenwachsreste, setzte sich daneben, schloss die Augen und visualisierte die Kerzen in ihren Gedanken. Eine leichte Übung, die sie schon als Kind beherrscht hatte: In ihrem Kopf bildete sich eine Kopie der arrangierten Kerzen, über die sie nun ein zweites Bild schob, auf dem einer der Kerzendochte brannte. Sie begann langsam, denn diese Art der geistigen Vorstellung kostete sie Kraft. Nach und nach schob sie neue Bilder mit jeweils einer weiteren angezündeten Kerze übereinander, so oft, bis alle fünf Dochte auf dem Duplikat, das sie in ihrem Kopf projizierte, hell flackerten. Sie schaute auf und lächelte zufrieden. Die Vision war real geworden. Die leuchtenden Flammen brachten ihr ein Stück angenehmer Vertrautheit zurück und schenkten ihr Hoffnung, all das verkraften und verstehen zu können.
Sie nahm das Tagebuch zur Hand und las an der Stelle weiter, an der sie in der Nacht ihres Geburtstages überstürzt aufgehört hatte.
4. Tag
Als Ciara am Morgen die Küche betrat, saßen Mike und Paul schon an dem aus massiver Mooreiche geschreinerten Tisch, der die Mitte des Raumes ausfüllte. Die beiden Männer hatten Frühstück gemacht und starrten schweigend auf ihre Teller. Es war ihr egal, wenn sie ihren Streit nicht beilegen wollten. Doch sie hatte in der Nacht einen Entschluss gefasst: »Wir müssen ihn suchen. Er weiß, wer ich bin, wer mein Vater war und wie meine Mutter wirklich umgekommen ist.« Ciara wählte einen Platz an der Längsseite des Tisches, sodass Paul links und Mike rechts von ihr saßen.
Die beiden Männer starrten Ciara fassungslos an.
»Meine Mutter hat gesagt, dass derjenige, dem ich meine«, ihre Stimme brach, sie schaute ihre Hände an, die auf dem Schoß ineinander verschränkt lagen, »Jungfräulichkeit opfere, das Wissen über mich erhält.«
Die Figur des Aschenputtels, die sie – wie viele andere Märchenfiguren – als Kind verehrt und in der sich Ciara stets wiedererkannt hatte, sah sie nun in einem düsteren Licht. Ihr Prinz teilte nichts mit dem gut aussehenden, liebevollen Jüngling aus dem Märchen der Gebrüder Grimm. Und noch weniger glich er Artus, dessen Sage sie hundertmal gelesen hatte, bis sie glaubte, ein Teil der keltischen Mythologie geworden zu sein, sodass sogar ihre Träume nur in der Welt der Kelten stattfanden. Und seit ihrem Geburtstag ahnte sie, dass ihre Träume mehr als im Schlaf produzierte Bilder darstellten, sondern zu Realität geworden waren, und sie ein
Weitere Kostenlose Bücher