Ciara
müssen, widerte Mike so an, dass er sich erneut ein Taxi nach Hause leistete. Eine Gipswanne hielt seinen gebrochenen Arm ruhig. Auf der mit vier Stichen genähten Kopfwunde klebten noch getrocknete Blutreste. Auch sein Pullover wies einige Blutflecke auf. Seine aufgeplatzte Lippe fühlte sich taub an und das Kinn schmerzte höllisch.
Der Taxifahrer schaute ihn mitleidig an. »Unfall gehabt?«
»Nein.« Mike verspürte keine Lust auf sensationslüsterne Konversation, die auf seine Kosten ging. Er starrte aus der Windschutzscheibe und hoffte auf eine baldige und anhaltende Wirkung des Sedativums, das er auf seine Bitte hin gespritzt bekommen hatte.
Nachdem er die Stufen hinauf zu seiner Dachwohnung mehr kriechend als gehend erklommen hatte, freute er sich auf sein Bett. Doch noch im Flur bemerkte er, dass etwas nicht stimmte. Er zog sein Handy aus der Tasche, bereit, den Notrufknopf bei einem neuen Angriff sofort zu drücken. Zögernd stieß er die Tür auf. Unzählige Splitter des Flurspiegels besäten den Boden. Vorsichtig stieg Mike über den Garderobenständer, der inmitten der Scherben lag. Unter seinen Schuhen knirschte es. Er sparte sich den Weg ins Bad. Als er die Küche betreten wollte, musste er sich vor Schreck an den Türrahmen lehnen. Jemand hatte im zerstörerischen Wahn alle Schubladen herausgerissen und deren Inhalt auf dem Boden verstreut. Dazu türmten sich zerbrochene Tassen und Gläser, zersprungene Teller und verbeulte Töpfe, die mit Marmelade, Butter, Käse und Brotkrümeln aus dem Kühlschrank garniert worden waren, zu einem Berg aus Müll auf. Er schloss die Augen, wankte und hoffte, sobald er die Augen öffnete, in seinem Bett aufzuwachen – aus einem üblen Traum. Aber die Realität belehrte ihn eines Besseren. Zögernd betrat er sein Schlaf- und Wohnzimmer. Nichts befand sich mehr an seinem ursprünglichen Platz: Aus der aufgeschlitzten Matratze quollen die watteartigen Innereien, das Bettzeug hing zerrissen über dem hochkant gestellten Lattenrost. Seine Kleidungsstücke waren überall im Zimmer verteilt. Auf dem Boden lagen die meisten seiner Bücher und Unterlagen, andere waren als Papierfetzen über das Chaos verstreut, als habe jemand den Inhalt eines Reißwolfs ausgeschüttet.
Nur der alte Sessel seiner Mutter war verschont geblieben – und der Computer, was Mike jedoch lediglich nebenbei zur Kenntnis nahm.
Verzweifelt starrte er auf sein zerstörtes Hab und Gut. Er schwankte zwischen Wutgeschrei und Weinen und entschied sich für beides: Er brüllte, während ihm Tränen über die Wangen liefen. Mit der Hand des unverletzten Armes schlug er gegen den Schrank, trat seine Kleidung mit den Füßen und reagierte sich ab, indem er so all seine Sachen noch mehr demolierte. Als er vor Erschöpfung in den Sessel sank, versiegten die Tränen und auch die Wut verrauchte allmählich. Resignation breitete sich in seinem Körper aus, bis sein zielloser Blick den Monitor erfasste. Er stutzte. Schwerfällig stemmte er sich hoch und schlich darauf zu. In großen Lettern stand in der Mitte des Bildschirms:
HALT DICH FERN VON IHR!
Mike zog sein Handy aus der Tasche und wählte Pauls Nummer.
Als Paul der Geruch von Kartoffeln und Fisch in die Nase drang, nahm er seinen Heißhunger das erste Mal bewusst wahr. Zum Essen blieb ihm jedoch keine Zeit; er musste den winzigen Anzeichen folgen, die Ciara ihm in unachtsamen Momenten preisgab.
Er wusste, dass ihn die drohende Unterzuckerung schon bald vor Probleme stellen würde. Unregelmäßige Nahrungsaufnahme brachte seinen Stoffwechsel durcheinander, was sich auf die Anämie auswirkte, die er dann nur noch durch Zufuhr von Blut bekämpfen konnte.
Seit Jahren bediente er sich vorbeugend aus der umfangreichen Blutkonservenbank des Krankenhauses, damit er nicht die Kontrolle über sich verlor, wie es in der Vergangenheit geschehen war.
Die aufsteigende Gier, gegen die er so lange erfolgreich gekämpft hatte, begann allmählich sein Gehirn zu infizieren. Noch unterdrückte er sein Verlangen und es gelang ihm, sich vollends auf Ciaras Spur zu konzentrieren, die sie mit ihren Fähigkeiten so exzellent zu verwischen wusste. Mit jedem Fehler aber, den sie machte, kam er ihr ein Stück näher.
Hundert Meter weiter entdeckte er einen mit Würstchen und Pommes bemalten Wagen von der Größe eines Kleinbusses. Vor der Imbissbude scharte sich eine Horde kichernder und schwatzender Teenager um ein brennendes Ölfass, wobei sie Hamburger oder
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