Ciara
blasses Gesicht wirkte jetzt grau. Er schluckte mehrfach hörbar. Seine Stimme klang tiefer als sonst. »Wie kommst du darauf, dass ich das war?«
»Wegen Ciara?«
»Spinnst du jetzt völlig? Ich weiß, dass sie dir gefällt, aber sie ist eine Nummer zu groß für dich.«
»Also warst du es?«
»Mike, denk nach. Der Typ, der dich zusammengeschlagen hat, könnte es genauso gut gewesen sein.«
»Kannst du das mit deinen Möglichkeiten nicht herausfinden?«
»Was nützt dir das?«
»Damit ich dem Typen die Polizei auf den Hals schicken kann?«
»Hast du schon Anzeige erstattet wegen Körperverletzung?«
»Nein.«
»Dann kannst du das hier«, Paul machte eine das Chaos umfassende Handbewegung, »gleich mitmelden.«
»Ich brauch dich als Zeugen.«
»Auf mich kannst du dabei nicht zählen.«
Mike schaute Paul fragend an.
»Streng dein Hirn an. Ich bin in eine Sache verstrickt. Polizei ist das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann. Auch nicht, um für dich als Zeuge auszusagen. Sorry.«
»Ach, Scheiße!« Mike schaltete den Computer aus. »Du hast da was Rotes am Mundwinkel.«
Eilig wischte Paul mit dem Ärmel darüber. »Ketchup«, erklärte er und wusste es selbst besser.
»Was ist passiert?«, fragte Mike.
»Wieso? Was meinst du?«
»Die Kanüle und den Beutel schleppst du doch nicht zu deinem Vergnügen mit dir herum.«
»Alles okay. Ich brauchte nur ein bisschen Blut.«
»Und was machst du, wenn du mal nicht zufällig ein bisschen Blut in der Tasche hast?«
Entsetzt starrte Paul seinen Kollegen an.
Um das Thema zu wechseln, erklärte er: »Ciara ist verschwunden.«
»Was heißt das, verschwunden?«
»Sie sucht den Täter. Das ist Wahnsinn, denn trotz ihrer Kräfte, die sie noch nicht richtig einsetzen kann, wird es ihr nicht gelingen, ihn zu töten, und falls doch, hat das ungeahnte Folgen für sie.«
»Du redest wie ein Betrunkener.«
Paul starrte auf den Boden.
»So in der Art fühle ich mich auch«, murmelte er.
»Was soll ich jetzt machen?«, lenkte Mike nach einer kurzen Pause das Gespräch in eine andere Richtung. »Hier bin ich auf jeden Fall nicht mehr sicher.«
»Du kommst mit mir. Anscheinend hat es jemand auf dich abgesehen.«
»Und? Lebe ich in deiner Gegenwart sicherer?«
Paul spürte Mikes Skepsis. »Das musst du selbst entscheiden.« Er meinte es genauso, wie er es sagte, denn Paul wusste selbst nicht mehr, wer in seiner Nähe sicher sein konnte.
Mike runzelte die Stirn und fixierte ihn ausgiebig, dann sagte er: »Okay, ich bin eh für die nächsten Wochen krankgeschrieben. Mach ich halt einen kleinen Ausflug mit einem Vampir.« Paul zuckte zusammen. Mike biss sich auf die Unterlippe und schob mit einem Fuß ein paar Bücher zur Seite.
»Wir sind keine Vampire«, zischte Paul. »Nicht solche, wie du sie dir vorstellst.«
Mike räusperte sich verlegen. »Dann erzähl mir mehr von euch, erklär mir dein Leben und das, was mit Ciara geschehen ist.«
»Pack zusammen, was du brauchst. Ich muss los und Ciara helfen.«
Nachdem Ciara sich noch einen großen Becher gemischtes Eis bestellt und dieses verzehrt hatte, fühlte sie sich endlich gesättigt. Die Müdigkeit überraschte sie wie ein unerwarteter kalter Regenschauer am heißesten Tag des Jahres. Sie schlüpfte in den Jogginganzug, flocht ihre Haare zu einem Zopf zusammen und kuschelte sich danach in das frisch bezogene Bett. Die Matratze gab leicht nach und der Lattenrost quietschte bei jeder Bewegung. Sie ließ den Fernseher im Hintergrund laufen und das Licht brennen, legte sich hin, den Blick zur Decke gewandt. Mit einer Hand tastete sie die Narbe an der Seite ihres Halses ab. An dem wulstigen Mal klebten einige Krustenreste, die vermutlich am nächsten Morgen auf ihrem Kopfkissen liegen würden. Die Geschehnisse der letzten Tage hatten ihr so viel über sie und ihre Familie offenbart, dass sie glaubte, es seien Monate vergangen. Und doch waren nur wenige Tage verstrichen seit ihrem neunzehnten Geburtstag und erst einige Wochen seit dem Tod ihrer Mutter.
Falls der Tod – ihrer oder
seiner
– sich als einziger Ausweg entpuppte, um zu vergessen und Rache zu nehmen, würde sie keine Sekunde zögern. Für einen Moment fürchtete sie sich vor sich selbst. Ihre kaltblütigen Empfindungen schienen zu einer anderen Ciara zu gehören. Sie drehte sich auf die Seite, versuchte zu schlafen und ihre Gedanken zu verdrängen, aber es gelang ihr nicht. Denn sobald sie die Augen schloss, spürte sie
seine
ekelerregende Nähe.
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