Ciara
Sekunden später neu zu beginnen.
Ciaras Gesicht drängte sich in sein Gedächtnis. Noch hielt er den Willen des Mädchens gefangen, während er das Telefon aus seiner Jackentasche zog.
Er meldete sich knapp.
»Wie schön. Beweg deinen Arsch hierher in meine Wohnung. Sofort! Ansonsten gehe ich zur Polizei.«
Unter der Herrschaft seiner verletzlichen Sinne, dem wachsenden Bewusstsein und der daraus resultierenden Panik vor seiner Tat erkannte Paul die Stimme nicht sofort, doch schließlich wurde ihm klar, dass es sich um Mike handelte.
»Was ist passiert?« Seine Stimme zitterte leicht.
»Alles ist verwüstet, alles. Verstehst du? Und derjenige, der das gemacht hat, hinterließ mir eine Nachricht, die du geschrieben haben könntest. Sag mir, was das alles soll, sonst muss ich Anzeige erstatten.«
Paul starrte auf das junge Mädchen, das in sich zusammengesackt auf der Holzkiste hockte, den Kopf nach wie vor zur Seite gebeugt, die Augen starr geradeaus schauend, ohne einen Funken Leben darin, wie es schien. Ihr Hals war mit Blut beschmiert. Ein letztes Mal blitzten Pauls Augen gierig auf, dann schloss er sie. »Ich komme gleich.« Zitternd trennte Paul die Verbindung, steckte das Handy zurück in die Tasche und raunte dem Mädchen zu: »Verzeih mir.«
Seine Sinne schmerzten wie ein eitriger Kratzer, die weiblichen Duftstoffe, die das Mädchen aussandte, erwiesen sich dabei als spitze Krallen, die darin herumstocherten. Wie ein Tier schrie er auf – stumm, nur in seinem Kopf, um die Aufmerksamkeit nicht auf sich zu lenken. Sein Herzschlag beschleunigte sich; das Beben schien seinen gesamten Körper einzunehmen. Er zitterte stark. Hastig wandte er sich von dem Mädchen ab, atmete vorsätzlich den pelzigen Gestank des Mülls ein, würgte und entfernte sich mehr und mehr von dem süßen Geruch, der ihn zu lange gefangen gehalten hatte. Allmählich wurde er ruhiger. Er wischte sich über den Mund, eilte um den Imbisswagen herum und bestellte sich ein kohlenhydrathaltiges Mahl, das aus mehreren Hamburgern, Hot Dogs und Pommes bestand. Während er auf sein Essen wartete, vermied er es, die Menschen um sich herum anzusehen. In diesem Moment wünschte er sich, allein auf der Welt zu sein. Als er endlich in seinem Wagen Zuflucht fand, nahm er den Geruch des Blutes in den verschweißten Beuteln sofort wahr. Er hatte noch längst nicht genug. Hastig biss er in einen Hot Dog, legte sich eine Kanüle und führte sich so gleichzeitig sein wichtigstes Nahrungsmittel zu.
Das Frettchen erwachte von dem Geruch der Pommes frites und des gebratenen Hamburgerfleisches, es schnupperte in der Luft herum, erhob sich gähnend und krabbelte zu Paul, klaute ihm eine der frittierten Kartoffelstreifen und zog sich damit knabbernd auf den Rücksitz zurück. Das wiederholte es, bis es satt einschlief.
Als Paul glaubte, seinen Stoffwechselhaushalt ausgeglichen zu haben, startete er den Motor.
Es missfiel ihm, jetzt zu Mike zu fahren, aber er hoffte, dass sich Ciara in einem Hotel ausruhte. Somit blieb ihm ein wenig Zeit für den Abstecher, um Mike zu beruhigen. Er hatte keine Ahnung, was Mike gemeint haben könnte.
Bevor er Gas gab, schaute er zu der Gruppe Jugendlicher hinüber. In diesem Augenblick trat das Mädchen aus dem Schatten des Imbisswagens hervor. Sie drückte ihre Hand gegen den Hals, schaute verwirrt auf ihre Freunde. Ein Schrei befreite sich aus ihrer Kehle und erlangte die Aufmerksamkeit, die sie jetzt brauchte, um ärztlich versorgt zu werden. Vergangenheitsfetzen drängten sich in den Vordergrund seiner Gedanken und führten ihm vor, wie weit er im Wahnsinn seiner Sinne hätte gehen können. Er fror, sein kleiner Finger schmerzte so stark, als habe er erst vor wenigen Sekunden die Fingerkuppe verloren.
Eine halbe Stunde später erreichte er Mikes Wohnung. Die Wohnungstür stand einen Spalt weit offen. Er drückte sie auf und rief Mikes Namen. Als er keine Antwort erhielt, stelzte Paul über die Spiegelsplitter und den umgeworfenen Garderobenständer, warf einen flüchtigen Blick in die Küche, sog entsetzt die Luft ein und stieß sie lautstark wieder aus, als er Mike im Sessel sitzen sah.
Mit einem knappen »Scheiße!« bekundete Paul sein Mitleid.
Mike erhob sich, schwankte, griff sich mit einer Hand an die Stirn und schloss die Augen. Als sich der Schwindel gelegt hatte, trat er auf seinen Computer zu, zeigte auf den Bildschirm und wartete, dass Paul sich neben ihn stellte, um die Nachricht zu lesen.
Pauls
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