Ciara
in dem ein Schlafgast davon träumte, wie die Äste riesiger Bäume nach ihm griffen. Das Wurzelgestrüpp wuchs dichter und stärker, bis es schließlich den Kellerboden durchbohrte und sich sehnsüchtig in Mutter Erde krallte. Ciara seufzte erregt, als sie die Energie in sich saugte, die von dort durch die Wurzeln in ihren Körper floss. Langsam hob sie die Arme und führte ihre Hände über dem Kopf zusammen, die Handflächen zeigten dabei nach oben. So gab sie negative Energien aus ihrem Körper ab und duschte in den positiven Strömen der Atmosphäre, die wie ein Feuerwerk um sie herum sprühten. Dabei murmelte sie leise Worte. Nachdem Ciara ihre Beschwörungen beendet hatte, lächelte sie. Ohne die Augen zu öffnen, streckte sie sich nun auf dem Bett aus, übersandte Paul in Gedanken eine Entschuldigung für den geistigen Diebstahl und schlief sofort ein.
Bevor der Wagen von der Fahrbahn driftete, griff Mike mit der rechten Hand in das Lenkrad. Unter größten Anstrengungen und Schmerzen rutschte er über die Mittelkonsole hinweg halb auf Pauls Schoß. Das von der ungewöhnlichen Bewegung hervorgerufene Ziehen in seinem gebrochenen Arm zwang Mike, laut aufzustöhnen. Er biss die Zähne fest zusammen, legte sein linkes Bein über Pauls rechtes und trat die Bremse durch. Gleichzeitig riss er das Lenkrad scharf nach rechts. Der Wagen durchbrach eine Schneeverwehung, ruckelte, als er über den Bordstein fuhr, und blieb knapp vor dem Pfahl eines Straßenschildes stehen. Mit einem jaulenden Geräusch erstarb der Motor.
Endlich entspannte sich Mike, setzte sich zurück auf seinen Sitz, zog die Handbremse an und schnaubte die angestaute Luft mit einem lauten Seufzer aus. Er krümmte sich zusammen, atmete mehrmals tief durch und hoffte, dass die stechenden Schmerzen, die wie ein messerscharfer Strudel an seinem Körper zerrten und sogen, bald verschwinden würden.
Neben ihm zuckten Pauls Gliedmaßen ohne Unterlass, als stünden sie unter Strom, hinter den geschlossenen Augenlidern bewegten sich die Augäpfel unentwegt.
Mike stieg aus und schaute sich um. Als er weder auf der Straße noch an den Fenstern von dem nächtlichen Lärm angelockte Menschen entdeckte, öffnete er die rechte Hintertür. Das Frettchen hatte ein Loch in den Karton genagt und es sich zwischen Schläuchen und Kanülen gemütlich gemacht. Jetzt starrte es Mike mit klaren Augen neugierig an, als wolle es ihm seine Hilfe anbieten. »Keine Sorge, schlaf weiter.« Mike zog die benötigten Utensilien unter dem warmen Bauch des Tieres hervor und einen Blutbeutel aus der Kühlbox.
Hörbar sog er die Luft ein und stieß sie leise wieder aus. Das Blut gerann langsam. Mike begann, den Beutel zu kneten, damit Bewegung in die Flüssigkeit kam, aber er konnte nichts daran ändern, dass kleine Klümpchen das Blut für jede reguläre Transfusion unbrauchbar machten. Aber er vermutete, dass dies für Paul nicht relevant war. Dessen aufgerissene Augen starrten aus der Windschutzscheibe in eine andere Welt, die Gliedmaßen hingen schlaff wie bei einer lebensgroßen Stoffpuppe am Körper herunter. Nur die hektische Atmung überzeugte Mike, dass sein Kollege, für den er mehr als nur seinen Job riskierte, lebte. Schweiß bildete sich auf Mikes Stirn und unter den Achseln, als er begann, Paul dessen Lebenselixier zuzuführen. Er stabilisierte einen Arm mithilfe seines Gipses, wählte die Vene in der Armbeuge, um die Haut an Pauls Händen zu schonen, sparte sich das Desinfizieren der Einstichstelle und setzte die Kanüle. Schließlich koppelte er einen Schlauch an den Beutel. Erschöpft sackte sein Körper zusammen, müde schloss Mike für Sekunden die Augen. Er wünschte sich fort von hier, aber er fühlte sich nicht in der körperlichen Verfassung, den Wagen zu fahren. Falls Paul nicht erwachte, würde ihm allerdings nichts anderes übrig bleiben, als es zu versuchen und ihn ins Krankenhaus zu bringen. Dann würde Mike zwar die Bestätigung erhalten, ob all das Gesagte den Tatsachen entsprach, allerdings könnte dies auch Pauls und Ciaras Geheimnis aufdecken. Also wartete er.
Vorsichtshalber verschloss er den Wagen von innen, legte den Blutbeutel, den er kontinuierlich knetete, auf seine Beine und döste ein.
Er lief hinter Ciara her, einen Berg hinunter und auf einen Wald zu, dessen tief hängendes Geäst und Dunkelheit in diesem Moment das Mädchen verschlang. Mike rief ihr etwas zu, doch er hörte seine Worte selbst nicht, darum rannte er weiter
Weitere Kostenlose Bücher