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Ciara

Ciara

Titel: Ciara Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Rensmann
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zu zittern, er war nicht mehr in der Lage, das Lenkrad festzuhalten. Seine Beine zuckten, als wollten sie einen wilden Tanz vollführen. Speichel lief aus einem seiner Mundwinkel. Aus der Ferne hörte er Mikes Rufe – und in seinem Kopf Ciaras Hilfeschreie.
     
    Rings um das Bett, das Ciara ein Stück von der Wand abgerückt hatte, standen in gleichmäßigen Abständen fünf dicke Kerzen, deren Dochte nacheinander aufglimmten.
    Sein
stinkender Atem pustete die flackernden Flammen aus, die Ciara mit ihren Gedanken sofort wieder entzündete. Sie hockte in der Mitte des Bettes, vergrub ihren Kopf in den Armen und schaukelte hin und her. Aus dem geflochtenen Zopf hingen zerzauste Strähnen, als habe eine Schar Vögel sie herausgepickt.
    Rechts neben ihr standen die Tiegel, die Ciara aus dem Schrank ihrer Mutter mitgenommen hatte. Zu ihren nackten Füßen lagen der Bergkristall und das silberne Schälchen, in dem die Kartoffeln serviert worden waren. Jetzt beinhaltete es ein Stückchen Kohle und ein einzelnes, getrocknetes Blütenblatt. Die restlichen Kräuter lagen verstreut auf dem Bett und dem Linoleumboden, wo Ciara sie aus Versehen verschüttet hatte.
    »Hör auf! Geh weg! Lass mich in Ruhe!«, kreischte sie, sprang auf – wie schon unzählige Male zuvor, als sei sie die Gefangene einer Zeitspirale – und rannte in eine Ecke des Zimmers. Mit dem Rücken an die Wand gedrängt, schaute sie sich um, obwohl sie inzwischen ahnte, dass sie ihn nicht sehen, sondern lediglich spüren konnte. Aber niemand hielt sich mit ihr im Raum auf, weder unter dem Bett noch sonst wo. Sie wusste es, und dennoch nahm sie seine Anwesenheit so intensiv wahr, dass sie gegen ihre Angst nichts zu unternehmen wusste.
    Ihr schützendes Ritual, für das sie die Kerzen um das Bett gestellt hatte und einige mit Harz vermischte Kräuter abbrennen wollte, verhöhnte er laut lachend, sodass sie nicht den Ruhepunkt fand, den sie benötigte.
     
    Ihre Augen waren weit aufgerissen, der Herzschlag stolperte über ihre Atmung. Nicht mehr lange und
er
würde gewinnen. Da spürte sie eine zweite Präsenz in ihrem Kopf. Eine starke und gute Kraft. Paul. Sie schloss die Augen und visualisierte ihre Angst in sein Gehirn, stahl seine Fähigkeit, mit der sie das Böse verdrängen wollte – zumindest, bis sie sich eine schützende, mentale Kuppel erbaut hatte. Als kämpfe sie gegen einen starken Wind an, drängte sie zurück an das Bett, einen Schritt nach dem anderen, um die Konzentration und das Gleichgewicht nicht zu verlieren.
    Das Lachen verstummte, die Kerzendochte flammten ein letztes Mal auf und erloschen. Sie setzte sich auf das Bett und saugte die ruhige Kraft, die sie Paul an einem anderen Ort stahl, in sich auf.
    Hingebungsvoll streute sie neue getrocknete Kräuter und Harze auf die schwarze Kohle in dem silbernen Schüsselchen. Erneut erhob sie sich und zündete nacheinander mit einem Feuerzeug die fünf Kerzen an, deren Lichtkegel einen Kreis um sie zogen. Als sie zum wiederholten Mal in dieser Nacht im Schneidersitz auf dem Bett saß, schloss sie die Augen, umfasste mit ihren Händen die Schüssel und lenkte einen Teil ihrer Konzentration auf das Kohleplättchen. Mit ihrer Macht, die sie mit der von Paul vermischte, verdrängte sie den Tyrannen aus ihrem Körper und aus dem Raum hinaus, schob ihn weg von sich, so weit, wie es ihr möglich war.
    Es verstrich nicht einmal eine Minute, bis ein Lufthauch in der Schale aufkam; es zischte leise, als die Kohle sich von selbst entzündete. Qualm ringelte sich wie eine Schlange darum, bis er das schwarze Plättchen vollständig umrankte. Ab und an glühte die Kohle rotorange auf. Schmale Rauchschwaden bewegten sich zu einer nicht hörbaren Musik wie die Natter eines Fakirs und verströmten einen betörenden Duft.
    Ciara sog den Geruch des Weihrauches und das weiche Aroma des Kerzenwachses in sich auf, bis jede Pore ihres Körpers davon ausgefüllt war. Eine tiefe Ruhe breitete sich bei jedem Atemzug in ihr aus. Sie schöpfte Energie für die Zukunft. Bedächtig nahm sie den Bleikristall auf und wendete den Stein in den Rauchschwaden, drückte ihn kurz in die Mitte ihrer Stirn, legte ihn anschließend auf ihren Schoß und richtete all ihre Aufmerksamkeit auf die Erde, die unter Teppichen, Holz und Beton auf sie wartete. Imaginäre Wurzeln trieben aus ihren Poren, flochten sich zusammen oder suchten einzeln den Weg durch das Bett, die dunkle Leere darunter, den Boden, die Decke und einen weiteren Raum –

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