Ciara
giftige Pfeilspitzen in sie drangen, doch es gelang ihr nicht, sich zu befreien. Sie fühlte sich schwach. In absehbarer Zeit würde sie in ein Fieberdelirium hinübergleiten.
Nur Blut könnte ihr jetzt noch helfen, aber der Gedanke daran, den geronnenen Saft in ihrem Rucksack essen zu müssen, drückte ihren Mageninhalt nach oben. Sie würgte und erbrach sich zwischen ihre gespreizten Beine. Angeekelt versuchte sie, ein Stück von dem Erbrochenen fortzurücken. Das dabei entstehende Quietschen der Stahlfesseln drang kreischend durch die Ohrmuscheln in ihr Gehirn. Möglicherweise konnte sie eine der Mäuse töten und aussaugen wie ein richtiger Vampir. Ciara kicherte leise und erbrach sich ein zweites Mal, als sie in ihrer Vorstellungskraft die Zähne in den winzigen haarigen Körper der Maus trieb.
Zu gern wollte sie einen weiteren Hilferuf an Paul senden, aber selbst dafür fehlte ihr die Kraft. So blieb ihr nur die Hoffnung, dass ihre Warnung ihn rechtzeitig erreicht und er die Chance zur Flucht ergriffen hatte. Sie dachte an Paul und verfluchte sich selbst für ihr waghalsiges Unternehmen, bevor sie, geschüttelt von Fieberschüben und Krämpfen, in Trance sank.
Ihr mit einer Schweißschicht überzogener Körper zitterte ohne Unterlass. Sie verdrehte ihre Augäpfel, sodass nur das Weiße blieb. Die Augenlider flatterten. Ihr Oberkörper schaukelte im Rhythmus einer imaginären Musik hin und her. In regelmäßigen Abständen warf sie den Kopf in den Nacken und wippte leicht auf und ab – den Mund zu einem stummen Schrei aufgerissen. Strähnen ihres Haares klebten an der schweißnassen Gesichtshaut. Dunkle Schatten unter den Augen grenzten sich stark von der hellen Haut ab.
In kurzen Momenten, in denen ihr Verstand zu denken in der Lage war, wünschte sie sich den Tod. Aber ihre archaische Seele wusste, dass sie so niemals sterben konnte, nur leiden – leiden, bis jemand sie befreite, auf welche Art dies auch geschehen mochte. Ciara sehnte sich danach, einzuschlafen und im Traum ihrer Mutter zu begegnen, die ihr alles über sich erzählen und ihr einen Ausweg zeigen musste. Aber die Gnade, in einen traumreichen Schlaf zu fallen, blieb ihr verwehrt.
Im Rausch ihrer verletzten Sinne dämmerte Ciara nah an der Grenze des Todes, aber nie dicht genug, um hinunterzustürzen und auf ewig ins Land ihrer Träume zu wechseln. Sie schwankte, bebte, zitterte, bewegte sich im Takt ihres unregelmäßigen Herzschlages und wartete auf die Erlösung.
Feine Schneeflocken rieselten aus dem abendlich dunklen Himmel auf sie herab und verwandelten den mit kleinen Pflastersteinen ausgelegten Weg in eine unebene Rutschbahn. Die durch den Schneefall entstehende Ruhe wirkte bedrohlich. Paul wunderte sich darüber, dass Fear keinerlei Mühe darauf verwendete, ihn abzuschütteln. Möglicherweise führte er Paul direkt in eine Falle. Aber um Mikes Leben zu retten, nahm er diese Gefahr auf sich. Außerdem besaß Fear Fähigkeiten, derer Paul noch nicht mächtig war. Und obwohl es ihm widerstrebte, mit Mike einen Zuschauer bei der eventuell bevorstehenden Übernahme zu haben, musste er die Chance nutzen, sofern sie sich ergab.
Sie hatten die Stadt längst verlassen. Niemand begegnete ihnen. Fear führte Mike über einen verlassenen Parkplatz, der zu einem baufälligen Industriegebäude gehörte. Große Laternen mussten einst den Ort ausgeleuchtet haben. Nun brannten nur noch vereinzelte Birnen hinter den vor Schmutz starrenden Glasschirmen.
Paul sah die Gelegenheit gekommen einzugreifen: Er lenkte seine Gedanken auf Fear, stürzte sich aber auf Mike und stieß ihn so heftig zur Seite, dass dieser mit seinem gesamten Gewicht auf dem gebrochenen Arm aufkam. Stöhnend rollte Mike sich auf dem mit Schnee bedeckten Boden zusammen.
»Ah, der Retter in der Not!«, spottete Fear.
»Du willst mich, also lass ihn doch in Ruhe.«
»Oh, er ist wertvoll.« Fear wandte sich Mike zu, der sich zaghaft aufsetzte. »In mehrfacher Hinsicht.«
Paul wusste, dass Fear ihn verwirren wollte, dennoch machte ihn die Bemerkung hellhörig. »In welcher Hinsicht?«
»Seine Seele ist gut, stark auf eine besondere Art. Und sie wird noch eine wichtige Rolle spielen. Natürlich hast du das noch nicht bemerkt. Selbst schuld. Was frierst du deine Fähigkeiten auch so viele Jahre ein. Außerdem – du bist seinetwegen hier, warum soll ich mich mit dir begnügen, wenn ich euch beide haben kann?«
»Wo ist Ciara?«
»Gut verwahrt«, lachte Fear.
Aus den
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