Cigams Sündenfall
das leichte Zittern darin war nicht zu überhören gewesen.
Und ehrlich gesagt, auch ich fühlte mich verdammt unwohl, dieses Freilicht-Totenhaus bei Anbruch der Dämmerung zu betreten…
***
Das Haus war düster, und wir standen davor wie drei Menschen, die nicht wußten, ob sie es betreten oder lieber draußen warten sollten.
Jedenfalls gehörte es zu den berühmten Prager Häusern, und es hatte seinen Platz am Eingang des Jüdischen Friedhofs, der so eng war, daß kein Platz mehr für das Aufstellen der Grabsteine gewesen war, deshalb hatte man sie übereinander geschichtet und ein regelrechtes Chaos aus Steinplatten geschaffen.
Das Haus vor uns sah aus wie eine kleine Burg. An der linken Seite ragte ein Turm mit einem roten Kuppeldach in die Höhe. Das übrige Gemäuer wirkte verwinkelt, an der rechten Seite ›klebte‹ ein niedriger Anbau mit einem schrägen Dach.
An der Rückseite überragten Bäume das Haus, und sie standen bereits auf dem Gelände des alten Friedhofs.
Milena hatte uns über die Funktion des Hauses einiges erklärt. In ihm befand sich jetzt ein jüdisches Museum, mit Ausstellungsstücken, die an sehr schlimme Zeiten dieses Volkes erinnerten.
Um die Abendzeit verlor der Friedhof für Touristen, die ihn in Scharen besuchten, jegliches Interesse. Er war ein steinernes Meer und wurde von alten, wuchtigen Kastanien beschattet. Milena wußte, daß seit dem Jahre 1787 auf dem Friedhof keine Beerdigungen mehr stattgefunden hatten. Davor aber, man sprach von rund dreihundert Jahren, wurden auf diesem Friedensgrund zweihunderttausend Juden beerdigt. Und dies auf einer Fläche mit der ungefähren Größe eines Fußballfeldes. Das war kaum vorstellbar, deshalb hatte man sich etwas einfallen lassen. In zwölf Schichten hatte man die Toten übereinander bestattet. Aus Platzmangel wurden nur die alten Grabsteine nach oben gehievt, oder man stellte sie kurzerhand nebeneinander, so daß sie aussahen wie steinerne Bücher.
»Man hat sie nicht genau gezählt«, sagte Milena, »aber rund zwölf tausend sollen es sein.«
Ich schüttelte den Kopf. »Da können wir ja lange suchen, bis wir das Grab des Rabbi Loew finden.«
Sie lächelte. »Das ist nicht zu übersehen. Es sticht deshalb hervor, weil auf ihm zusammengefaltete Zettel und Röllchen liegen. Die Pilger haben dort ihre Wünsche hinterlassen. Sie bringen so etwas als Ersatz für Blumen mit. Es entspricht einem alten jüdischen Brauch.« Sie hob die Schultern. »Wie gesagt, Prag ist reich an Geschichten, und auch dieser Friedhof bildete da keine Ausnahme.« Sie deutete nach vorn. »Auf dem Friedhof gibt und kann es keine Ruhe geben, wenn täglich Tausende von Touristen das Areal besuchen. Wenn schon die Toten keinen Platz haben, kann es hier einfach keine letzte Ruhe geben. Man erzählt sich, daß in der Nacht kleine Gestalten in weißen Totenhemden über den Friedhof geistern. Es sind die verstorbenen Kinder, die den Weg nicht ins Jenseits finden.« Sie wollte lächeln, das schaffte sie nicht, denn die Lage war einfach zu ernst. Ein jeder von uns wußte, daß der Besuch auf dem Friedhof kein Spaziergang werden würde. Wir würden sicherlich keine Kinder in Totenhemden sehen, sondern andere Gestalten, viel gefährlicher und darauf spezialisiert, auch zu töten.
Cigam und sein Sündenfall!
Ich schaute Suko an. Der hob die Schultern. »Meinetwegen können wir gehen, John.«
»Sind alle Besucher verschwunden?«
»Das kann keiner von uns mit Bestimmtheit sagen.«
Milena war anderer Ansicht. »Doch, wir können gehen. Ihr braucht keine Angst zu haben, daß wir von Menschen erdrückt werden. Welcher Tourist hält sich schon gern bei Anbruch der Dämmerung auf einem alten Friedhof auf, wo die mächtigen Grabsteine Schatten werfen, als würden diese aus dem Totenreich hervorkommen?«
»Gut gesprochen«, lobte ich.
»Man sagt uns Pragern auch Phantasie nach.«
»Die haben Sie.«
Milena Novak überquerte die Straße. Vor dem Museum blieben wir noch einmal stehen. Eine Gruppe Deutscher hatte den Friedhof wohl als letzte verlassen. Sie kamen auf uns zu, waren ziemlich schweigsam, und eine Frau sagte mit leiser Stimme. »Auf dem Totenfeld möchte ich keine Nacht allein verbringen.«
Ich mußte lächeln, denn mit dieser Bemerkung hatte sie Milenas Ansichten bestätigt. Die Menschen überquerten die Straße. Als sie sich in meinem Rücken befanden, überkam mich der Eindruck, daß jetzt nur mehr die Toten auf uns warteten.
Milena war vorgegangen. Sie
Weitere Kostenlose Bücher