Cigams Sündenfall
schaute sich immer wieder um, ob wir ihr auch folgten. Den Weg allein zu gehen, erschien ihr ebenfalls nicht geheuer. Es war etwas Wind aufgekommen. Er wehte von den Bergen herab und spielte mit den Blättern der Kastanien. Wir mußten an einer alten Mauer vorbeigehen, die noch zum Museum gehörte, und nahmen bereits den Geruch wahr, der uns empfing.
Er war seltsam, er war auch schwer erklärbar. Okay, da hatten Touristen ihren Geruch hinterlassen. Schweiß und Parfümreste mischten sich, aber der Wind brachte auch den Duft von einem frischen Grün mit, vermischt mit Feuchtigkeit.
Noch etwas anderes drängte sich hinein, es war sehr schwer zu beschreiben, und man mußte dafür schon etwas Phantasie aufbringen.
So kalt und auch auf gewisse Art und Weise rauchig rochen alte Steine, die vom Staub der Geschichte überdeckt waren. Das paßte auch, denn damit war der Friedhof gefüllt worden.
Ein Weg führte um ihn herum, aber wir konnten ihn auch direkt betreten.
Es hatte keinen Sinn, wenn wir kreuz und quer über den Friedhof irrten, wir mußten schon so etwas wie ein Etappenziel haben, und das war das berühmte Grab des Rabbis Loew.
Bevor wir in den steinernen Garten eintauchten, blieb Milena noch einmal stehen und wandte sich uns zu. Ihr Gesicht zeigte einen ernsten Ausdruck, sie stand unter einer Spannung und sah so aus, als hätte sie sich am liebsten immer wieder umgedreht, damit sie von keiner Seite her unangenehm überrascht werden konnte.
»Das ist jetzt eine historische Stätte.« Sie senkte ihre Stimme und zuckte zusammen, als dunkle Vögel durch das Blätterwerk der Kastanien tobten. »Was an den alten Geschichten alles stimmt und was nicht, das weiß ich leider nicht. Knochen und Gebeine werden wir nicht sehen. Die sind längst zu Staub zerfallen, sie liegen zudem unter der Erde. Was den Friedhof auf der einen Seite so spannend und auf der anderen Seite so unheimlich macht, sind eigentlich die Grabsteine, die eben so dicht gestaffelt nebeneinander stehen. Es gibt Wege, an die wir uns halten sollten. Es führt auch einer zum Grab des Rabbis.«
»Das ist wichtig«, sagte ich.
Milena schaute mich aus ihren braunen Augen skeptisch an. »Warum wollen Sie eigentlich dorthin? Der Rabbi ist…«
»Bitte, Milena«, sagte ich, »so dürfen Sie das nicht sehen. Wir sind zwar im weitesten Sinne auch Touristen, doch uns geht es um etwas anderes. Was er getan hat, war der Anfang. Er hat Gott versucht, er wollte der Schöpfung einen Streich spielen, der erste künstliche Mensch, das war die Sensation. Goethe hat aus diesem Thema seinen Faust geschaffen. Es ist eben einmalig, er ist der Beginn gewesen, und ich denke mir, daß es auch ein Ort ist, der von seinen Nachfolgern besucht wird.«
»Sie wollen Cigam und Altea dort treffen?«
»Ich könnte mir vorstellen, daß sie sich zumindest in der Nähe des Grabes aufhalten.«
»Aber da gibt es nichts zu sehen für sie. Das ist alles längst vorbei, Geschichte, Legende…«
»Gerade das hat es uns angetan. Suko und ich haben Altea zwar noch nicht zu Gesicht bekommen, Cigam ebenfalls nicht, aber wir glauben fest daran, daß das Grab eine große Rolle spielen wird. Deshalb werden wir uns überraschen lassen.«
»Das meine ich auch.« Milena schüttelte den Kopf. »Beinahe kommen Sie mir vor, als könnten Sie sich genau in Ihre Gegner hineinversetzen. Das ist schon seltsam.«
»Wir versuchen es. Das hat uns die lange Zeit unserer Arbeit gelehrt. Wir sind zwar keine Dämonen oder dämonische Geschöpfe, doch aus Erfahrung wissen wir, wie sie zumeist handeln werden, und danach können wir uns auch richten.«
Unsere Kollegin schaute Suko an, als erwartete sie von ihm einen Widerspruch, mein Freund aber lächelte nur und stimmte mir durch sein zweimaliges Nicken zu.
»Gut, dann gehen wir.«
Ihre Stimme hatte etwas beklommen geklungen. Ich faßte sie unter und drückte sie noch für einen Moment an mich. »Keine Sorge, Milena, wir werden auf Sie achtgeben.«
»Das möchte ich doch hoffen.«
Wenig später hatten wir den Weg am Rand des Geländes verlassen und waren in diese andere Welt hineingegangen. Es war wirklich ein Reich für sich, und jeder Besucher mußte sich erst daran gewöhnen, natürlich auch wir.
Der Tag war warm gewesen, schon zu warm für diese Jahreszeit. Vom Morgen bis zum Abend hatte die Sonne geschienen und auch diesen alten Friedhof nicht ausgelassen.
Dennoch atmeten die Steine eine Kühle aus, die unsere Gesichter streifte und zumindest mich an
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