Cinderellas letztes Date
Die Mutter verlor nun endgültig die Fassung und brach weinend in den Armen ihres Mannes zusammen. Freunde und Bekannte der Familie, die in den ersten Reihen standen, weinten aus Mitleid mit. Brad hielt tröstend Chelsea in den Armen. Nur Ruby stand allein und in sich gekehrt da.
Sie dachte an den Montag vor einer Woche, als sie von Clarissas Tod erfahren hatte. Die schier unerträgliche Stimmung im Haus der Eltern. Mamas Heulkrämpfe. Daddys Ausraster und selbstquälerischen Schuldzuweisungen. Hatte er seine über alles geliebte Clarissa mit seinen Vorwürfen in den Selbstmord getrieben? Ruby wusste, er würde sich nie verzeihen, dass er und Clarissa bei ihrer letzten Begegnung im Streit auseinandergegangen waren.
Dieser Montag war ein Tag nicht enden wollender Schrecken gewesen. Ruby lief bei der Erinnerung an die Leichenhalle in der Gerichtsmedizin ein Schauer über den Rücken. In ihrer Fantasie hörte sie das Klacken ihrer Absätze auf dem Marmorfußboden, als sie in Begleitung von Vater und Bruder zu Clarissas Identifizierung ging. Ihre Mom wartete in Chelseas Obhut am Empfang. Beide Frauen weigerten sich, Clarissa vom Tod entstellt zu sehen. Sie wollten sie als die strahlende Schönheit in Erinnerung behalten, die sie zu Lebzeiten gewesen war.
Sie hatten es vorgezogen, erst heute vor Ankunft der Trauergäste und im sanften Licht der Friedhofskapelle von der vom Bestatter perfekt geschminkten und hergerichteten Clarissa Abschied zu nehmen.
Doch die Clarissa, die im Sarg lag und aussah, als schliefe sie, hatte nichts mit dem geschundenen toten Mädchen gemein, das Ruby in der Gerichtsmedizin gesehen hatte.
Ihr Körper war kreidebleich gewesen, und die Adern hatten bläulich durch ihre transparent wirkende Haut geschimmert. Die Haare hingen nass und strähnig herab. Ruby entdeckte noch Moder aus dem See in den Strähnen, da der Gerichtsmediziner die Tote nicht sorgfältig gewaschen hatte. Und wie in einem letzten grotesken Scherz streckte Clarissa ihrem Publikum ihre geschwollene, blutunterlaufene Zunge heraus. Am schlimmsten waren jedoch die tiefroten Würgemale quer über ihrer Kehle, dort wo die Schnur sie stranguliert hatte. Der Anblick der brutalen Spuren bereitete Ruby körperliche Schmerzen.
Ihr Vater identifizierte seine Tochter mit einem Kopfnicken in Richtung von Sheriff Warden, der die Cartwrights zwecks Abschluss seiner Ermittlungen begleitet hatte. Die Obduktion hatte Clarissas Freitod bestätigt. Brad berührte die Hand seiner toten Schwester, und ihr Vater strich ihr zärtlich eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht.
Die Cartwright-Männer verließen die Leichenhalle, um mit Sheriff Warden letzte Formalitäten zu regeln. Ruby blieb zurück. Sie trat an den leblosen Körper ihrer Schwester, beugte sich zu ihr herunter und flüsterte ihr ins Ohr: „Du kannst dich doch nicht einfach so aus der Affäre stehlen und mich hier allein lassen. Ich finde heraus, warum das mit dir geschehen ist. Das bin ich dir und mir schuldig. Schließlich bist und bleibst du meine beste Freundin.“ Sie küsste Clarissas kalte Stirn und verließ die Leichenhalle.
Ruby schmeckte jetzt noch den fauligen Geschmack des Sees von Clarissas Haut auf ihren Lippen. Gedankenverloren berührte sie ihren Mund, als jemand sie ansprach.
„Hallo, Ruby, lange nicht gesehen. Tut mir echt leid, dass wir uns ausgerechnet unter so traurigen Umständen wiedertreffen.“
Ruby sah auf und blickte direkt in Owen Whites blaue Augen. Ein Stich traf sie mitten ins Herz, und für den Bruchteil einer Sekunde verschlug ihr sein Anblick die Sprache. Owen war der Sohn von Bürgermeister White, und als Kinder waren sie unzertrennliche Freunde gewesen. Bis zur Pubertät, denn mit dem Hormonschub blieb die Unbeschwertheit auf der Strecke. Ruby verknallte sich Hals über Kopf in ihn, wagte aber nicht, ihm ihre Gefühle zu zeigen. Was vermutlich auch besser war.
Denn Owen sah in ihr nie mehr als einen „Kumpel mit Busen“. Zumindest bezeichnete er sie so während ihrer Highschool-Zeit, und obwohl er dies gewiss nur mit den besten Absichten tat, brach er ihr damit das Herz. Nach dem Ende der Highschool war ihr Kontakt eingeschlafen. Ruby hatte Owen ab und an auf Partys getroffen, und ihre Unterhaltungen beschränkten sich auf Small Talk.
Sie war über ihn hinweg. Jedenfalls nahm sie das an. Obwohl ihr Puls jetzt, da er vor ihr stand und sie mitfühlend anlächelte, raste und ihr Mund trocken wurde.
„Danke für das Beileid und dafür, dass
Weitere Kostenlose Bücher