Cinderellas letztes Date
ist erst vier Wochen her, seit deine Schwester gestorben ist. Du und deine Familie müsst noch lernen, mit dem Verlust umzugehen. Deine Mom und dein Dad wählen einfach nur einen anderen Weg als du. Lass etwas Zeit verstreichen. Dann kannst du mit ihnen über deine Schwester und die Hintergründe ihres Todes reden.“
„Hoffentlich.“ Ruby seufzte und dachte: Wenn ich die Hintergründe jemals herausfinde … Sie hatte Nachforschungen anstellen wollen, wo Clarissa sich herumtrieb und mit wem, und auf Brads Unterstützung gehofft. Doch ihr Bruder reagierte abweisend. Er wollte nicht in Clarissas Privatleben herumstochern. Sie hatte es geheim gehalten. Also ginge es auch nach ihrem Tod niemanden etwas an. Außerdem glauben Mom und Dad noch an die unbefleckte Empfängnis Mutter Marias. Für die beiden würde eine Welt zusammenbrechen, wenn Clarissa womöglich hinter ihrem Rücken ein wildes Leben geführt hatte. Sie musste ihrem Bruder versprechen, nichts zu unternehmen.
Und sie hatte es ihm versprochen und geschwiegen. Zudem standen Uni-Prüfungen an, sodass alles andere erst mal warten musste. Doch nun hatte sie die Klausuren bestanden, und sie konnte sich wieder dem Wesentlichen widmen: Clarissas Selbstmord – wenn es einer war.
Denn im Gegensatz zu ihrer Familie und der Polizei, die den Fall Clarissa Cartwright zu den Akten gelegt hatte, hegte Ruby zunehmend Zweifel am Freitod ihrer Schwester. Zuerst hielt sie ihre Skepsis für Auswüchse ihrer Fantasie, weil sie die Tatsachen nicht akzeptieren wollte. Schließlich hatte die Autopsie den Suizid bestätigt. Aber es gab zu viele Fakten, die dagegensprachen.
Clarissa war wunderschön gewesen – und eitel. Sie hätte sich niemals eine Schnur um den Hals gelegt und eine unansehnliche Leiche abgegeben, der die Zunge aus dem Mund hing. Letzteres hatte Ruby als Folge des Erstickungsvorgangs angesehen. Was soweit auch stimmte. Doch dann erfuhr sie beim Schauen der Krimi-Serie „CSI Miami“, dass eine derart extreme Verfärbung und Schwellung des Muskelkörpers auf einen Blutsturz hindeutete und der wiederum nur bei etwa fünf Prozent der Selbstmorde, aber bei 37 Prozent der Morde durch Erwürgen vorkam.
Ruby war zwar klar, dass in einer Fernsehserie viel behauptet wurde, was der Realität nicht standhielt. Aber möglicherweise arbeitete der Gerichtsmediziner in Clarissas Fall schlampig. Schließlich hatte er die Tote nicht mal ordentlich gesäubert.
Fest stand, dass Clarissa zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens starb. Lebend wurde sie das letzte Mal vom Hausmeister ihres Wohnheims gesehen, als sie Sonntagnacht um 23 Uhr allein das Haus verließ. Dummerweise maß Sheriff Warden seiner Aussage keine Bedeutung bei, da der Hauswart zu dem Zeitpunkt bereits einige Bier getrunken hatte und widersprüchliche Angaben bezüglich Clarissas Kleidung machte. Doch Ruby glaubte dem Mann. Somit lagen zwischen Leben und Tod ein, maximal zwei Stunden. Lake Fulton, der Fundort der Leiche, war ein Bergsee, acht Kilometer von Ashbury entfernt. Clarissa hasste Autofahren und besaß keinen Wagen. Zu Fuß hätte sie die Strecke niemals in einer Stunde geschafft, möglicherweise in zwei Stunden – wäre sie gejoggt.
Doch Rubys Schwester war unsportlich. Sie besaß keine Schuhe mit flachen Absätzen, geschweige denn Turnschuhe. Zudem mussten die Steigung mit einberechnet werden und die Dunkelheit. Hatte sie etwa eine Taschenlampe bei sich gehabt? Bei ihrer Leiche und in deren Umgebung war jedoch keine gefunden worden.
Und davon abgesehen: Warum sollte sie sich mitten in der Nacht in der Wildnis umbringen? Da konnte sie sich genauso gut in der Dusche ihres Wohnheims aufknüpfen.
Sie hatte es aber im Freien getan. Folglich musste jemand sie gefahren haben. Per Anhalter? Unwahrscheinlich. Clarissa stieg aus Angst nie bei Fremden ein. Aber Ausnahmen bestätigten die Regel. Wenn sie sich töten wollte, war ihr vielleicht eh alles egal.
Oder … sie hatte jemanden in ihr Vorhaben eingeweiht. Doch wer würde einen Selbstmord unterstützen, anstatt sie von der Tat abzuhalten? Und wen kannte sie so gut, dass sie mit ihm oder ihr über solche Pläne sprach?
Blieb noch die Möglichkeit, dass sie ein Date hatte. Eventuell mit ihrem zukünftigen Mitbewohner – vorausgesetzt es war keine Frau. Handelte es sich bei ihm um Clarissas große Liebe? Kam es zwischen ihr und dem Unbekannten zum Streit oder zur Trennung? Brachte sie sich aus Verzweiflung um? Oder forderte Clarissa zu viel – und
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