Circulus Finalis - Der letzte Kreis
oben folge deinem Ohr…
Ich hö rte, wie sich, schneller als erhofft, draußen im Korridor die offene Tür wieder schloss. Die Klassenzimmer waren gut zu übersehen, kaum Versteckmöglichkeiten. Dann ein Geräusch wie von Metall auf Metall, das ich nicht gleich zuordnen konnte. Mir wurde klar, dass sie die Klinken der unverschlossenen Türen mit Stühlen von außen blockierten. Sollten sie doch etwas übersehen haben, dann wäre ich gefangen; falls nicht, konnte ich mich im Raum nur verstecken, wenn ich den Stuhl sichtbar entfernte. Beklemmung stieg in mir hoch. Meine Kollegen waren möglicherweise in der Jagd geschickter als ich auf der Flucht.
Die Schritte nä herten sich weiter, und auch von unten hörte ich etwas.
Leise, ganz am Rand der hö lzernen Stufen auftretend, schlich ich mich auf der Treppe nach oben. Fünf Stufen lang ging alles gut, aber als ich die nächste Stufe belastete, bog sich diese unter meinem Tritt mit einem knarrenden Laut. Vorsichtig zog ich den Fuß zurück, und ein weiteres Mal ächzte das Holz. Die Schritte hielten kurz inne.
Auf dem Weg nach oben folge deinem Ohr.
Ich beugte mich hastig hinunter, suchte nach einem Zeichen, einem Mechanismus, einem Hinweis. Dann sah ich es: Der Holzbelag der Stufe hatte sich etwas vom Unterbau gelöst und bog sich daher bei Belastung durch. Im Spalt zwischen Sockel und Stufe steckte ein in dünnes Leder eingeschlagener Zettel gelblichen Papiers.
Die Schritte beschleunigten sich. In dem Moment, als ich den Zettel aus dem Spalt zog, bog Wegmann um die Ecke, keine drei Meter von mir entfernt.
Er wirkte trotz allem ü berrascht, überraschter als ich jedenfalls. Ich sah direkt in seine flackernden Augen, erinnerte mich gemeinsamer guter Momente in gehobener Stimmung, nickte ihm kurz zu, und nahm dann die zwei Stufen bis zum nächsten Treppenaufsatz in einem Sprung.
„ Er ist hier!“
Es ist merkwü rdig, wie der Körper, unser Gedächtnis für die Metrik der Bewegungen, nichts vergisst. Obwohl ich seitdem um einiges gewachsen war, kannten die Beine nach wie vor den genauen Abstand der Stufen. Wegmann folgte mir keuchend und ich spürte wieder diese Zuversicht, dass die Flucht mir gelingen würde. Oben am Ende der Treppe stand ein Plastikmülleimer, zumindest in meiner Erinnerung; im Halbdunkel der Notbeleuchtung griff ich danach und da war er, auch nach fünfzehn Jahren noch. Mit einer raschen Bewegung kippte ich ihn Wegmann entgegen.
Antwortrufe waren zu hö ren, schnelle Schritte, deren Richtung nicht leicht zu bestimmen war. Ich vermutete, dass sie sich auf die verschiedenen Stockwerke verteilt hatten, und dass einer an der Pforte zurückgeblieben war, um den Ausgang zu sichern. Der direkte Weg dorthin war ziemlich sicher eine Falle, also musste ich sie ablenken, mich verstecken.
Der Abstand zu Wegmann hatte sich vergröß ert, und unwillkürlich bremste ich meinen Lauf ein wenig. Das Überwinden der in regelmäßigen Abständen eingebauten Feuerschutztüren kostete Kraft. Ich konnte nicht auf Schnelligkeit allein bauen, das wäre nur eine Hoffnung, keine Lösung. Ich brauchte einen Plan.
Die Klassenrä ume, das Lehrerzimmer und die Toiletten waren ausnahmslos Sackgassen, sofern sie nicht ohnehin abgeschlossen waren. Was gab es sonst noch? Den Keller, in dem unter anderem ein Aufenthaltsraum eingerichtet worden war. Dort kannte ich mich weniger gut aus. Der den Schülern unzugängliche Trakt des Ordens, den ich gar nicht kannte. Und im östlichen Flügel die Kapelle, die Aula, in der Feiern und Aufführungen stattfanden, und die Cafeteria Dort würde ich vermutlich die besten Chancen haben, und außerdem war es von diesem Gebäudeteil nicht weit bis zum Ausgang.
Allerdings war ich in der falschen Richtung unterwegs, mit Wegmann hint er mir und Schritten, die sich von unten zu näherten. Ich bog um eine Ecke in Richtung des großen Treppenhauses, sah nach unten und erkannte im schwachen Licht eine Hand, die sich am Geländer hielt und mir mit schnellen Griffen mir entgegeneilte.
Noch imme r diese Zuversicht. Das war gut, zu vermeiden galt es jegliche Konfusion oder Panik. Solange ich einen klaren Kopf und das Bewusstsein für die Lage bewahrte, würde mir nichts passieren.
An die Wand gedrü ckt wartete ich auf den keuchenden Wegmann. Als er um die Ecke bog, versetzte ich ihm mit aller Kraft der rechten Faust einen Schlag zwischen die Schulterblätter.
Ich wollte ihn nicht verletzen, und der Schlag kostete mich Ü berwindung; seit den
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