Circulus Finalis - Der letzte Kreis
Haupteingang aus nach oben führte. Ich musste hier weg.
Als ich zu laufen begann, war ich merkwürdig ruhig, und der festen Überzeugung, dass sie mich nicht fassen würden. Das Gebäude war verwinkelt, mit drei Stockwerken und einem Keller; auch nach acht Jahren hier kannte ich nicht alle Ecken und Gebäudeteile. Es gab mehrere Treppenhäuser, die die Etagen miteinander verbanden. Die grundlegende Frage war, ob ich versuchen sollte, zu entkommen, oder mich zu verstecken. Welche Möglichkeiten gab es? Es wäre ein Leichtes gewesen, aus einem Klassenraum im Erdgeschoss durch das Fenster zu fliehen, aber eigentlich sollten alle Klassenräume abgeschlossen sein, und ob ich die Zeit hatte, viele Klinken auszuprobieren, blieb fraglich. Wenn ich ein Versteck wählte, dann musste es ein gutes sein, denn vermutlich würden sie gründlich und ohne große Eile suchen. Mir fiel kein Ort ein, an dem ich wirklich sicher wäre.
Also lief ich. Auf eigenartige Weis e fühlte sich alles vertraut an und wenig bedrohlich. Lange Zeit hatte ich nicht daran gedacht, aber während der ersten Jahre hier auf der Schule hatten wir in nahezu jeder Pause Fangen gespielt. Mindestens die halbe Klasse war dabei, Mädchen wie Jungen: Kreuz und quer über die Korridore, wo wir uns zum Ärger der Lehrer und älteren Schüler durch die Menge drängten, als gelte es das Leben, um fünf Minuten später verschwitzt und außer Atem im Klassenraum zu sitzen. Das Gebäude war für uns ein ausgedehnter Abenteuerspielplatz. Und so lief ich jetzt, wie damals, entlang der von schwacher Notbeleuchtung erhellten Gänge, hier und da einen Blick riskierend und sich eines Raumes, einer Begebenheit erinnernd, so als sei das der Zweck meines Besuches. Der Knöchel schmerzte, aber ich spürte es kaum; bemüht um ein gleichmäßiges Tempo und lautlose Schritte nahm ich die Treppe hinauf in den zweiten Stock.
Hier passierte mir eine Unachtsamkeit: Die Treppe verlief im Bogen, und ich hielt mich kurz am Gelä nder fest, das über eiserne Stangen mit den Geländern weiter unten verbunden war. Mein Griff versetzte die Stangen in feine Schwingung. Von unten ein unterdrückter Ausruf: Jetzt wussten sie, wo ich war, zumindest ungefähr.
Aber noch hatte ich Vorsprung, eine Minute mindestens . Ich nahm einen Blumentopf mit einer kränklichen Aloepflanze und warf ihn ein gutes Stück den Gang entlang in Richtung des nördlichen Gebäudeteiles, wo er am Boden zerschellte. Dann wandte ich mich so leise wie möglich in die andere Richtung.
Die Richtung war nicht zufällig gewählt. Zwar würde es schwierig werden, in der gegenwärtigen Situation und unter Zeitdruck etwas zu finden, das wahrscheinlich gut versteckt war, aber ich musste einfach den Punkt aufsuchen, der auf der Karte markiert war, und mich umsehen, und sei es auch nur kurz. Vielleicht fand sich irgendwo das Auge des Circulus Finalis eingeritzt, vielleicht endete die Geschichte hier.
Vom Korridor bog ein schmaler Gang in den Turm ab, einen Anbau irgendwann aus den sechziger oder siebziger Jahren. Nach wenigen Metern gab es eine Wendung nach links. Da war der vertraute, drei mal vier Meter große Vorraum; da war die Tür meines alten Klassenzimmers.
Ich kannte die Gerä usche dieses Ortes genau: Ein großer Heizungsverteiler lief an der Wand entlang, und das Flüstern des warmen Wassers, jetzt, im Februar, kam mir vertraut vor, als sei es nur Tage her, dass ich zuletzt hier gewesen war. Hinter diesem Geräusch hörte ich Schritte und schnelle Atemzüge und wusste, sie waren nicht mehr weit.
Unwillkü rlich drückte ich die Klinke der Tür zum Klassenzimmer, aber sie war verschlossen. Daneben ging es zur Toilette. Diese Tür ließ sich öffnen, aber beide Varianten bedeuteten hier, im zweiten Stock, eine unentrinnbare Sackgasse. Die Wände des Vorraums waren großteils holzgetäfelt, der Boden verfliest, hölzerne Stufen führten nach oben wie nach unten.
Schnelle Schritte, nahe jetzt, vom Korridor her und auch von unten. Tü rklinken wurden gedrückt, eine Tür öffnete sich hörbar. Das gab mir vielleicht ein paar Sekunden mehr. Ich drehte mich im Kreis, spürte leichten Schwindel, suchte nach dem Auge, nach verdächtigen Kanten oder Vorsprüngen, einer losen Fliese oder einer feinen Fuge im Holz. Nichts. Welche Anhaltspunkte gab es? Die zweite Botschaft fiel mir wieder ein, die von der Mühle. Bisher war ihre Bedeutung im Dunkel, doch es war nicht anzunehmen, dass sie bedeutungslos war. Auf dem Weg nach
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