Circulus Finalis - Der letzte Kreis
Wachraum hinauf. Sie kennt sich erstaunlich gut im Fahrzeug aus, dachte ich noch, und schloss die Medikamentenschublade sorgfältig wieder ab.
6
Etwa alle vier Wochen nahm ich morgens den Bus in Richtung des betonlastigen, abluftüberwehten Stadtzentrums, stieg dort um, fuhr noch einmal einige Kilometer und erreichte trotz der mäßigen Größe der Stadt erst nach einer knappen Stunde endlich den Stadtteil, in dem ich lange Jahre zur Schule gegangen war. Manchmal wartete ich nicht, bis die vier Wochen um waren: Wenn es an Ruhe mangelte in meinem Leben, wenn ich Entspannung brauchte, das Gefühl, dass das große Ganze einem gemeinsamen Gesetz gehorchte, dass das, was geschah, einem Ziel zustrebte – oder, falls es das nicht tat, dass alles trotzdem ganz in Ordnung war – dann wurde es Zeit, Fellenbeck zu besuchen.
Fellenbeck war Friseur. Er hatte etwas unglü ckliche Proportionen, was das Verhältnis von Leibesumfang zu Armlänge anging; auch bin ich mir fast sicher, dass sein linker Arm kürzer war als der rechte. Wenn er hinter einem stand und mit Haarschneidemaschine oder Schere agierte, dann konnte man spüren, wie er sich beugen und strecken musste.
Einen Termin vereinbarte ich nie. Und nie betrug die Warteze it mehr als zehn Minuten. Sein Geschäft lag an einer lebhaften Durchgangsstraße, die einmal Zentrum eines beschaulichen, eigenständigen, inzwischen eingemeindeten Städtchens gewesen war. Doch ein dichter Samtvorhang jenseits der Eingangstür schluckte alle Geräusche. Schob man ihn beiseite, so eröffnete sich eine ruhige, gelassene Welt, in der alles, jeder Gegenstand, jede Handbewegung, ihren Sinn und Zweck hatten.
Aber es war mehr als das. Fellenbeck war keiner dieser Friseure, die in dem Irrtum leben, jede r ihrer Kunden trete mit einem ungestillten Bedürfnis nach Rede und Antwort über ihre Schwelle, oder sei in letzter Konsequenz sogar eher ein Patient, der nur den Weg zum Psychologen scheue: Er hingegen – nein, er war nicht abweisend; er konzentrierte sich darauf, Haare zu schneiden. Er tat das mit fließenden, regelmäßigen, hypnotischen Bewegungen, die, untermalt von den leisen Geräuschen der Schere und dem tiefen Brummen der Haarschneidemaschine, eine vollkommene Entspannung bewirkten. Ich vergesse nicht, wie er mir einmal offenbarte:
„ Ich habe geheiratet…“
„ Mein Glückwunsch! Wie war die Feier?“, entgegnete ich.
„ Wir sind sehr zufrieden.“
Dann schnitt er mir die Haare. Stets berechnete er den gleichen Betrag wie bei meinem ersten Besuch, obwohl mittlerweil e inflationsbereinigte Preise auf einer schwarzen Tafel zu lesen standen. Stets gab ich ihm den aufgerundeten, angeschriebenen Betrag. Und jedes Mal deponierte er mit einer leichten Verbeugung die Differenz in einer durchsichtigen Plastiksammelbox, auf der für Spenden für die Kinderkrebsklinik geworben wurde. Dann sah er mir nach, bis ich jenseits des Samtvorhangs aus seiner Welt verschwand.
„ Sie sind ein Magier“, sagte ich einmal unter dem Eindruck seiner schmalen Brille und des an den Enden aufgezwirbelten Schnurrbarts zu ihm. Er nickte mir freundlich zu.
So kam es, dass ich trotz einer generellen Bereitschaft, ja vielleicht sogar Neigung, die Haare lä nger zu tragen, Sommer wie Winter mit einem Kurzhaarschnitt unterwegs war: Spätestens nach vier Wochen zog es mich zurück in Fellenbecks Friseurgeschäft.
Immer nach diesen Besuchen im Friseurladen, diesen – hätte man sie gemessen – zwanzig, vielleicht fünfundzwanzig Minuten, fühlte ich mich der Zeit enthoben. Ich wusste, sie würde mich spätestens am nächsten Morgen wieder einholen, aber bis dahin hatte ich frei. Plötzlich war es unerheblich, dass die Bahnfahrt in eine Stadt, einer skurrilen Ausstellung wegen, zwei Stunden dauern würde. Ich saß am Fenster des Großraumabteils und sah hinaus wie ein Kind, das Kühe zählt oder Wolken oder ich weiß nicht was. Ich tat Dinge in der Überzeugung, mein Leben befinde sich im Gleichgewicht, in einem unverletzlichen Schwebezustand. Einmal lieh ich mir ein Fahrrad aus und fuhr an einem viel zu heißen Sommertag ohne Eile den Fluss entlang stromaufwärts, Stunde um Stunde, die Industrieanlagen, die nächste Stadt hinter mir lassend, bis das Land hügelig wurde. Erst spät am Abend nahm ich die Bahn zurück.
Meistens aber fuhr ich einfach mit dem Zug in die Stadt meiner Studien. Ich hatte Sehnsucht nach den Straßenbahnen, den antiquierten, aber größtenteils noch in Betrieb befindlichen,
Weitere Kostenlose Bücher